Leseprobe "Sirenengesang"

Der erste Band der abgeschlossenen Romantic-Fantasy-Reihe "Die anderen Anderen"

Kapitel 1

 

 

»Er gefällt dir.«

Das breite Lächeln ihrer älteren Schwester zeigte strahlend weiße Zähne. Viele Zähne. Marleen warf ihr einen bösen Blick zu. Sie konnte es nicht leiden, wenn Luna das machte. Vor allem nicht, wenn sie im Café waren. 

»Grins noch breiter, dann sieht man deine zweite Zahnreihe. Du siehst aus wie ein verdammter Haifisch.« Luna brach in leises Gelächter aus. Marleen wusste warum – ihr Vergleich hinkte nur ein ganz kleines bisschen. Jedes Wort war wahr.

»Das ändert nichts daran, dass ich Recht habe. Geh zu ihm rüber und sprich ihn an. Oder warte!« Luna stemmte eine Hand in ihre ausladenden Hüften, ihre dunkelgrünen Augen blickten hinterlistig. »Lass ihn noch etwa eine Woche schmoren. Er kommt sicher jeden Tag wieder und bis er sich traut dich anzusprechen, sichert er uns den nächsten Urlaub.« 

Marleen warf einen Kaffeelöffel nach ihrer Schwester. Zu ihrem Bedauern wich Luna flink aus, das Grinsen auf ihrem Gesicht wieder genauso breit wie zuvor. Unsicher blickte Marleen sich im Café um – aber niemand schien sich für das Geplänkel zwischen den Schwestern zu interessieren.

»Du bist unmöglich«, zischte Marleen. »Außerdem weißt du genau was passiert, wenn wir Männern zu viel Aufmerksamkeit schenken.« Lunas Augen nahmen einen dunkleren Farbton an. 

»Ich hab ja nicht gesagt, dass du ihn gleich auffressen musst. Aber ein bisschen knabbern wird ihn schon nicht umbringen.« Marleen würde ihre linke Hand dafür geben, wenn Luna nur rumalbern würde.

Sie wandte ihren Blick wieder zu dem Mann am Fenster. 

»An dem ist genug dran.« 

Marleen schnaubte missbilligend. Dennoch konnte sie ihre Augen nicht davon abhalten, über die breiten Schultern und muskulösen Arme zu schweifen, die so appetitlich von einem weißen T-Shirt umschmeichelt wurden.

Weil sie wusste, dass sie sonst den restlichen Tag über keine Ruhe haben würde, murmelte sie: »Ich überleg es mir.« Luna kicherte neben ihr, ziemlich unartig. 

»Manchmal kann ich nicht glauben, dass wir verwandt sind – so prüde, wie du bist.«

»Luna hat Recht«, sagte eine weiche Stimme hinter ihr. Nadja, die älteste von ihnen, kam aus der Küche. Über ihrer Schulter hing ein Spültuch. Um ihre Lippen tanzte dasselbe durchtriebene Lächeln wie bei Luna. 

»Selbst Grandma findet es bedenklich, wie abstinent du in letzter Zeit geworden bist.«

Statt rot zu werden, wie die meisten Leute in einer solchen Situation, stieß Marleen nur ein ärgerliches Knurren aus. Scheppernd wurde vor ihr auf dem Tresen ein Tablett mit schmutzigem Geschirr abgestellt. 

»Spielt Marleen wieder den Pitbull?« 

»Sara, halt die Klappe und arbeite gefälligst weiter.« 

Missmutig drückte Marleen ihrer jüngeren Schwester ein neues Tablett in die Hand, vollgestellt mit Tassen und Gläsern. Mit einem Luftkuss in ihre Richtung zog Sara wieder ab. Niemand, nicht einmal der miesepetrigste Mensch der Welt, konnte ihr die Laune verderben. Auch wenn Marleen sich manchmal wirklich Mühe gab – und noch nicht einmal ein Mensch war.

»Ich werde ihm einfach ihre Handynummer zustecken«, sagte Luna zu Nadja. Während die beiden Kriegsrat abhielten, widmete sich Marleen wieder der Kaffeemaschine. Sie liebte dieses Monstrum aus Chrom und Plastik. Der Duft von geröstetem Kaffee und warmer Milch gehörte zu den ersten, an die sie sich erinnerte.

Schon seit Generationen gehörte den Frauen ihrer Familie dieses Café – zusammen mit dem großen Haus an den Klippen, in das es integriert war. Die Männer der Familie … na ja, das war ein anderes Thema.

Marleen erinnerte sich an keinen Tag in ihrem Leben, an dem sie morgens nicht das Rauschen des Meeres gehört hatte. Den frischen Geruch nach Salz nahm sie schon gar nicht mehr wahr. Als hätte er sich bereits unter ihre Haut gesetzt. 

Unweigerlich wanderte ihr Blick doch wieder zu der einsamen Person am Fenster. Er ist wirklich knackig, dachte sie bei sich. Ihr Blut sirrte durch ihre Adern, wenn sie die Augen über seinen Körper wandern ließ. 

Marleen war weder dumm noch eingebildet – sie wusste, dass der Mann wegen ihr seit einigen Tagen ins Café kam. Und warum sollte er auch nicht an ihr interessiert sein. Mit ihrem taillenlangen blauschwarzem Haar, den dunkelblauen Augen und der milchweißen Haut war sie ein lohnenswerter Anblick.

Leider wäre ich seiner Gesundheit nicht förderlich, dachte Marleen selbstironisch. Die Frauen der Familie Cromwell waren … sehr speziell. Was zwangsläufig zu den Männern der Cromwells führte, die meist nur eins waren: tot. 

Eine lästige kleine Angewohnheit, ein bisschen wie ein Fluch, der leider nicht aussterben wollte. Dumm nur, dass keine Frau aus der Blutlinie Cromwell jemals auch nur annähernd hässlich war und sich immer irgendjemand fand, der sie schwängerte. Aussterben, auch wenn es zum Wohle der Menschheit wäre, würden sie wohl niemals.

Marleen seufzte und sah wieder auf den Cappuccino, den sie gerade zubereitete. Es war wirklich ärgerlich. Ihrer Großmutter hatte sie einmal hitzig versprochen, bis zu ihrem Tod Jungfrau zu bleiben. Sofia hatte sie mit großen Augen angesehen, war in schallendes Gelächter ausgebrochen und hatte sich fast fünf Minuten nicht mehr eingekriegt. 

»Schätzchen«, hatte sie schließlich geprustet, »du wirst noch bevor du achtzehn bist dein Versprechen brechen und glaub mir – deine Großmutter wird dich dazu beglückwünschen.« Sofia hatte sie tatsächlich lachend in die Arme genommen – am Tag nach ihrem sechzehnten Geburtstag. Gott sei Dank war Sam Brown damals noch mit dem Leben davongekommen.

»Elende Hormone«, knurrte Marleen vor sich hin. 

»Lästige kleine Biester, nicht wahr?« Die tiefe Stimme ließ Hitze in Marleens Körper aufwallen. Der Geruch nach Seife und Mann verdrängte für einen Moment den Dunst der Kaffeemaschine, in dem sie stand. Unwillkürlich leckte sich Marleen über die Lippen, als sie den Blick hob.

Wie gebannt hingen die Augen des knackigen Mannes vom Fenster an ihrem Mund. 

Du bist ein Miststück und ein Luder, dachte Marleen bei sich. Dieser Gedanke veranlasste sie zu einem lasziven Lächeln. Marleen konnte sich zwar dagegen wehren, eine Cromwell zu sein, aber schaffen würde sie es nie. Niemals.

»Ach, Kontrolle wird überbewertet«, hörte sie sich schnurren. Luna und Nadja lachten leise und verschwanden in der Küche. Marleen war ihnen sehr dankbar – noch ein Haifischgrinsen von ihrer zweitältesten Schwester, und Marleen hätte sie mit Wasser übergossen. Etwas, das für diejenigen aus ihrer Blutlinie weit mehr Unannehmlichkeiten bedeutete als nur eine ruinierte Frisur.

Der Mann ihr gegenüber erwiderte ihr Lächeln. Seine braunen Augen funkelten amüsiert. 

»Ich heiße Lír.« Über den Tresen hinweg reichte er ihr die Hand. Marleen wusste, dass sie sie nicht ergreifen sollte, tat es aber trotzdem. Seine Haut fühlte sich etwas rau an, sehr warm und einfach herrlich. Das Sonnenlicht aus dem Oberlicht malte goldene Reflexe in sein blondes Haar.

Er war so lebendig. Etwas, dass auf Marleen schon immer wie eine Droge gewirkt hatte. Ein Grund, warum sie niemals von sich aus zu ihm gegangen wäre. Aber nun war er hier – selbst schuld an dem, was ihm widerfahren könnte. Marleen bemühte sich, ihre Stimme neutral klingen zu lassen. Der falsche Tonfall und sie raubte dem armen Mann den Verstand – wortwörtlich. Vor allem, wenn sie wie jetzt vor Verlangen glühte.

»Hallo, ich bin Marleen«, sagte sie. Soweit es möglich war, wurde das Blut in ihren Adern noch heißer. Sie hatte einfach zu lange gewartet, hatte sich zu lange gewehrt. Der Herr möge ihr beistehen – oder besser dem gutaussehenden Lír. Denn noch während er sich ihre Telefonnummer aufschrieb, wusste Marleen, dass sie ihn mit Haut und Haaren verschlingen würde.

 

»Marleen, wir überlassen dir auch die Entscheidung.« 

»Bitte!« 

»Komm schon. Die anderen sind immer so grob, wenn sie mir die Knoten aus den Haaren ziehen.« Vier ungehaltene Augenpaare richteten sich gleichzeitig auf Sara. Diese hob abwehrend die Hände vor sich. 

»Ladies, schaut mich nicht so bösartig an. Es ist die reine Wahrheit. Selbst du bist ziemlich ruppig, Grandma.« 

Sofia verdrehte die grünen Augen. »Ich hab eben einfach keine Geduld. Das ist etwas, dass man nicht einmal mit dem Alter dazulernt.« 

»Bitte Mutter, du gibst dir doch nur nicht genug Mühe«, kicherte Anna. 

»Ich bin noch nicht zu alt, um dir eine Tracht Prügel zu verpassen.« Kaum einen Wimpernschlag später waren die fünf Frauen um Marleen in harmlose Streitereien vertieft.

Marleen seufzte schicksalsergeben – an diesem Tag konnte sie sich wohl gegen nichts zur Wehr setzen. 

»Also gut«, sagte sie laut genug, damit sie das Geschnatter übertönte. »Ich komme mit. Aber nur, wenn wir im Haus bleiben. Heute ist Flut und ich habe keine Lust, das ganze eklige Zeug, das die Wellen vom Meer herangetragen haben, in meinen Haaren wiederzufinden.«

»Du bist so zimperlich«, neckte Sara sie, während Luna ihr einen Kuss auf die Wange drückte. 

»Da ich dich kenne, meine liebe Schwester, habe ich bereits heute Morgen die Heizungen angeworfen.« 

»Und damit mal wieder die Gasrechnung gesprengt.« Anna grinste ihre zweitälteste Tochter liebevoll an.

Bevor Luna etwas erwiderte, klatschte Sofia in die Hände und scheuchte sie alle Richtung Kellertreppe. 

»Kommt schon Kinder, die Nacht dauert nicht ewig und ich werde nicht jünger.« 

Nadja kicherte leise. »Du siehst auch schon ganz verschrumpelt aus.« 

»Meiner Haut fehlt es eben an Feuchtigkeit«, verteidigte sich Sofia. 

Marleen grinste vor sich hin. Ihre Großmutter sah keinen Tag älter aus als vierzig, obwohl sie schon weit über achtzig Jahre alt war. Ein Geschenk ihrer guten … Gene. Keine Cromwell wurde je wirklich alt. Sie wurden zwar älter, aber keine der Frauen ihrer Familie hatte sich je mit grauen Haaren oder Falten herumschlagen müssen.

Innerlich seufzte Marleen. So schön die Vorstellung auch war, diese Jugend hatte einen Preis. 

Hör schon auf!, mahnte sie sich selbst. Ich habe heute schon genug dunklen Gedanken nachgehangen. Entschlossen, den Abend und die Nacht inmitten ihrer Familie zu genießen, schaltete sie das Kellerlicht an.

Der »Keller« war nicht wie der gewöhnlicher Häuser, zumal er viel weitreichender war, als es das Gebäude darüber vermuten ließ. Tatsächlich erstreckte er sich bis in die Klippen hinein. Als Kinder waren Marleen und ihre Schwestern unzählige Male durch die vielen Tunnel und Gänge gerannt, die das Untergeschoss mit dem Strand, dem Rand der Klippen und einer kleinen Lagune verband.

Sanftes Licht erhellte eine Welt, die ganz den Cromwells vorbehalten war. Marleens Herz wurde augenblicklich leichter. In die anthrazitfarbenen Felsen der Klippen war ein riesiges Wasserbecken gehauen worden, immer wieder unterbrochen von kleineren Felsen. Jede Generation der Cromwells hatte etwas hinzugefügt – einen Wasserfall, einen kleinen Bachlauf, später elektrisches Licht und schließlich Marleen und ihre Schwestern mit der Heizung.

Das Becken wurde mit Meerwasser gefüllt, das durch ein ausgeklügeltes System aus Naturfiltern und Wasserrädern, angetrieben durch Windkraft, ständig ausgetauscht und gereinigt wurde. Schon vor Jahrzehnten war diese Technik perfektioniert worden. 

Der verführerische Duft von warmem Salz sickerte in jede von Marleens Poren, streichelte ihre Sinne. Die Haut schien plötzlich zu straff auf ihren Knochen zu sitzen. In all ihren Zellen pulsierte das Leben. Die Stimmen ihrer Familie waren nur noch ein diffuses Rauschen im Hintergrund, während ihre Beine sie ganz automatisch näher an den behauenen Beckenrand trugen.

Sie fühlte kräftige Finger auf ihrer Schulter, einen Schritt bevor sie ins warme Wasser gefallen wäre. 

»Du wartest immer viel zu lang.« Die dunkelblauen Augen ihrer Mutter sahen sie tadelnd, wenn auch liebevoll an. »Marleen, du solltest öfter hier herunterkommen. Nicht erst, wenn du beim bloßen Anblick von Wasser Kiemen bekommst.« 

Behutsam berührte Marleen ihren Hals, fühlte tatsächlich bereits die ersten Kerben in der Haut. Unausgesprochen hing ihre Befürchtung zwischen ihr und Anna. Diese küsste sie auf die Stirn. 

»Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie ich so ein feinfühliges Wesen auf die Welt setzen konnte.«

Marleen lächelte entschuldigend. 

»Nun komm. Hier unten wirst du schon niemanden beißen, mein Schatz.« 

Marleens Lächeln weitete sich zu einem durchtriebenen Grinsen aus. »Da wäre ich mir nicht so sicher – deine anderen Töchter haben mich heute ganz schön geärgert.« 

»Sei nicht so zimperlich«, entgegnete Luna. Ohne jegliche Scham stand sie splitternackt vor ihnen. Ihre helle Haut schimmerte im diffusen Licht wie eine Perle. Ihr dunkelblondes Haar wellte sich in einer langen Kaskade bis hinunter zu ihrem Po. 

»Außerdem willst du ja nicht als miese Petze dastehen, oder?«

Anna küsste Marleen auf die Stirn, ehe sie sich daran machte die Schnürung ihres Wickelkleids zu lösen. »Ich mische mich nicht ein – da könnte ich mich ja genauso gut in ein Becken mit Säure stürzen.« 

Sofia schlang von hinten die Arme um Anna und sagte: »Du und Helena wart auch nicht besser.«

Bei der Erwähnung ihrer Tante musste Marleen wieder grinsen. Sie mochte Helena wirklich sehr, auch wenn sie sie nur sehr selten zu Gesicht bekam. Wie auch ihre beiden Großtanten war Helena eine Frau, die es nirgendwo länger als ein paar Wochen aushielt. Darum war es für sie und ihre Schwestern immer ein großes Ereignis, wenn ihre Tante für ein paar Tage wieder hier ins Haus zog. 

Ungeduldig zupfte Sara an Marleens Kleidung. 

»Runter damit«, ordnete sie an. Etwas irritiert bemerkte Marleen, dass sie die Einzige war, die noch angezogen war. 

»Weil du immer so viel deinen Gedanken nachhängst«, kommentierte Luna ihre verwunderte Miene. »Der arme Kerl aus dem Café heute tut mir jetzt irgendwie leid. Solltest du dich je dazu durchringen, mit ihm zu schlafen, wird er das Gefühl haben mit einem teilnahmslosen Fisch zu vögeln.«

Nadja schnippte ihrer jüngeren Schwester gegen ein Ohr. »Luna, mäßige deine Wortwahl!« 

»Was? Der Vergleich mit dem Fisch ist doch gar nicht so schlecht …« Statt sich zu schämen, grinste Luna verschlagen.

Marleen verdrehte die Augen und schälte sich aus ihren Klamotten. Achtlos warf sie ihre Jeans und das schulterfreie Top auf eine der Liegen in der Nähe. Sobald die feuchte Luft sie von Kopf bis Fuß einhüllte, verdoppelte sich ihr Herzschlag. 

»Hört auf zu streiten«, murmelte sie, den Blick bereits fest auf das Wasser gerichtet. 

Das leise Rauschen des Wasserfalls dröhnte überlaut in ihren Ohren. Der Drang, endlich ins Wasser zu gehen, war verhängnisvoll. Selbst wenn in diesem Moment das Haus über ihr zusammenstürzen und die Hölle losbrechen würde, Marleen könnte sich nicht davon abhalten in dieses Becken zu steigen.

Doch statt kopfüber hinein zu springen, zwang sie sich mit dem letzten Rest Disziplin dazu, die Steintreppe zu nehmen. Ein beinah ekstatisches Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, als sie den einen Fuß ins Wasser tauchte. Schmerz und Euphorie schossen gleichzeitig durch ihren Körper, lähmten und belebten sie im selben Atemzug. Es war das Schönste und Schrecklichste zugleich, was sie jemals gefühlt hatte.

Immer weiter stieg sie ins Wasser, bis es ihr schließlich bis zur Brust reichte. Die Wasseroberfläche leckte wie ein Liebhaber über ihre Brustwarzen. Ihr langes Haar sog sich voll, wurde schwer und warm auf ihrem Rücken. Aber das alles bemerkte sie kaum. Vielmehr wurde Marleens Aufmerksamkeit davon aufgezehrt, wie sich ihr Körper veränderte, neu formte.

Versteckt unter der Wasseroberfläche zerfaserten ihre Beine. Kein einziger Blutstropfen verfärbte das Wasser und dennoch war innerhalb von wenigen Augenblicken kaum noch mehr von ihren Beinen übrig als zwei blutige, zerrissene Fleischstränge.

Immer weiter arbeitete das Gewebe, bewegte sich, zwang sich selbst in eine andere, unmenschliche Form. Neue Qual durchströmte Marleens Körper, als ihr vormals geteilter Unterkörper zu einem Ganzen verschmolz, länger wurde und sich an den Enden lange, biegsame Knorpelstreben bildeten. 

Krampfhaft sog Marleen Luft in ihre Lungen, fühlte die kühle Berührung des Sauerstoffs bereits an den Schlitzen in ihrem Hals. Wie scharfe Klingen durchstießen Schuppen das blutige Fleisch ihres Unterkörpers. Einige Herzschläge später war das wunde Gewebe von einem schillernden, überirdischen Blau überzogen. Entlang ihrer Wirbelsäule schoben sich ebenfalls Schuppen durch die Haut.

Zwischen den Knorpeln am Ende spannte sich eine durchsichtige, aber ledrige Membran. Gleichzeitig wuchsen an ihren Hüften und ihrem unteren Rücken entlang weitere Knorpel, bildeten sich zu fächerartigen Auswüchsen.

Anschließend verformte sich ihr Hals, die Kiemenschlitze wurden tiefer. Ihre Ohren wurden in die Länge gezogen, wurden spitz und an den Enden beinah durchscheinend. Die Metamorphose ihrer Hände war weit weniger schmerzhaft. Ihre Finger wurden lediglich etwas länger, krallenartiger. Das Wachstum ihrer Eckzähne war innerhalb eines Herzschlags beendet. Als letztes änderte sich die Textur ihrer Haut, die ohnehin milchweise Farbe nahm das helle Schillern von Perlmutt an, wenn das Licht darauf traf.

Alles hatte kaum zehn Minuten gedauert, aber Marleen war es wie eine Ewigkeit erschienen. Als sie nun einatmete, klang es nicht mehr krampfhaft, nicht mehr als würde sie unendliche Qualen erdulden. Sanft und gleichmäßig floss ihr Atem durch Nase und Kiemen. Erst jetzt wurde sich Marleen wieder der Geräusche in ihrer Nähe bewusst. 

Da sie als erste ins Wasser gegangen war, steckten ihre Verwandten noch mitten im Formwechsel. Marleen hätte tiefstes Mitleid empfunden, wenn sie nicht genau wüsste, dass der Schmerz nach wenigen Herzschlägen bereits vergessen war. 

Nadja, keinen Meter neben ihr, war als zweite fertig. Ihre blauen, fast violetten Augen reflektierten auf gespenstige Art und Weise das Licht. Es war kein Weiß mehr darin zu sehen – nur bodenlose Tiefe. Ein Lächeln ließ die dolchscharfen Eckzähne zum Vorschein kommen. Nadjas Gesicht wirkte dennoch feiner, filigraner. 

»Besser als ein Orgasmus, wenn der Schmerz endlich nachlässt. Nicht wahr?« 

Marleen nickte. Wäre sie nicht ihre Schwester, wäre sie nicht genauso eine Kreatur wie sie, Marleen hätte sich beim Klang von Nadjas Stimme die Kleider vom Leib gerissen und sie angebettelt, sehr unanständige Dinge mit ihr zu tun. In ihren menschlichen Hüllen konnten sie die Verführung in ihren Stimmen beherrschen, aber nach der Wandlung war das unmöglich. Nicht, wenn sie ihr wahres Gesicht zur Schau trugen. 

Neben ihr schlug das Wasser kleine Wellen und Luna lehnte sich mit einem seligen Seufzen an den Beckenrand. Ihre Augen, zwei grüne Tintenkleckse in ihrem perlenfarbenen Gesicht, funkelten mutwillig. 

»Schön, nicht wahr?« 

Sofia glitt lautlos neben sie, warf ihrer frechen Enkelin einen bösen Blick zu. »Lass Marleen endlich in Ruhe. Oder glaubst du tatsächlich, dass sie länger als einen Monat hierauf verzichten könnte?« Mit ihrem weißblonden Haar sah sie Luna fast zum Verwechseln ähnlich. Nur ein bisschen reifer, facettenreicher. 

»Könnten wir das Thema bitte lassen?« Marleen versuchte, eine tadelnde Miene aufzusetzen, doch es gelang ihr nicht. Nicht jetzt, nachdem sie sich so viel leichter fühlte als zuvor. Mochte sie es auch nicht wahrhaben, die menschliche Gestalt war anstrengend. Etwas weniger gefährlich, aber anstrengend. Vor allem, wenn sie immer auf der Hut sein musste, nicht von zu viel Wasser berührt zu werden.

Nicht, dass sie sich nicht gegen die Verwandlung wehren konnte – aber es tat weh. Sehr, sehr weh. Dagegen waren die Qualen von eben wie ein Mückenstich. Es war nie ratsam, sich Mutter Natur und ihrem Willen entgegenzustellen. Die Lady war ziemlich bestialisch in ihren Strafen.

Aber jetzt … Marleen seufzte und ließ sich rückwärts ins Wasser fallen. Jetzt war Marleen einfach nur glücklich, zu dieser schrägen Familie zu gehören. Lächelnd und mit kleinen Bewegungen ließ sie sich auf den tiefsten Punkt des Beckens sinken – fünfzehn Meter unter der Oberfläche. Das schwarze Haar wie eine lebende Wolke um sie herum, atmete sie tief durch. Das Wasser kitzelte an den winzigen Lamellen ihrer Kiemen.

Anna sank neben sie, die Lippen ebenfalls zu einem Lächeln verzogen. Das diffuse Licht von oben ließ das helle Blau ihrer Schuppen wie Aquamarine funkeln. Liebevoll strich sie über Marleens filigrane Seitenflosse. 

»Na, bist du nicht froh eine Cromwell zu sein?« Annas Stimme klang seltsam verzerrt, aber immer noch wie sie selbst. Marleen lachte und kleine Luftblasen stiegen nach oben. 

»Es hätte mich schlimmer treffen können.« Anna lachte ebenfalls. Der Schall trug weit durch das Wasser, lockte die anderen Frauen der Familie an.

»Ja, du könntest eine verdammte Baumnymphe sein. Und glaub mir, als Ficcus hat man nur halb so viel Spaß.« 

Sara ließ sich langsam auf sie sinken, bis ihre Brüste den Übergang zwischen Haut und Schuppen berührten. Ihr Lächeln hätte einem Mann gegenüber als schamlose Einladung gegolten. Ihre Stimme strich wie Samt über Marleens Sinne. 

»Mom hat Recht – sei froh, dass du eine Sirene bist.«

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