Leseprobe "Erwachen"

Der erste Band der Urban-Fantasy-Reihe "New Gods"

Kapitel 1

»Verdammt!«

Tally riss die Hand zurück, die sie eben noch nach ihrer Kaffeemaschine ausgestreckt hatte. Das elende Ding hatte ihr einen Stromschlag verpasst. Mit zusammengezogenen Augenbrauen rieb Tally über ihre Handfläche, um das unangenehme Kribbeln darin los zu werden.

»Du sollst mich mit Kaffee wach machen, nicht mit sowas«, brummte sie und warf dem Gerät einen missmutigen Blick zu. Vorsichtig versuchte sie es wieder und dieses Mal konnte sie die Maschine anschalten, ohne einen Schlag abzubekommen. Gurgelnd und zischend erwachte das Gerät zum Leben.

Tally stellte eine Tasse darunter, ließ einen Espresso hineinlaufen und griff nach ihrem Handy. Sie hatte noch fünf Minuten, dann musste sie los zur Arbeit. An die Anrichte ihrer kleinen Küche gelehnt, nippte sie an dem starken Kaffee und seufzte zufrieden. Für gewöhnlich war sie morgens ein Zombie, doch heute fühlte sich Tally voller Energie und Tatendrang. Trotzdem hatte sie nicht auf dieses Ritual verzichten wollen.

Kurz darauf räumte Tally die Tasse in die Spülmaschine, zog sich an und verließ ihre Wohnung. Draußen war es noch immer dunkel. Im Wetterbericht hatten sie gesagt, dass es vielleicht schneien würde. 

Das glaube ich erst, wenn es so weit ist, dachte Tally. Es war lange her, seit es das letzte Mal geschneit hatte. Im vergangenen Winter war die Stadt nur einmal unter einer dicken Schneeschicht begraben worden. Vollkommen untypisch für Stockholm.

Der Wind pfiff kalt durch die Straßen, so dass Tally den Schal fester um ihren Hals zog und die Hände tief in den Taschen ihres Mantels vergrub. Eigentlich hätte das Wetter ihr die Stimmung vermiesen müssen, doch Tally ging beschwingt durch die Stadt.

An der roten Ampel eines Bahnübergangs blieb sie stehen. Kurz darauf kam eine Straßenbahn angefahren, die Räder knirschten und kreischten auf den Schienen und Tally verzog das Gesicht. Sie konnte dieses Geräusch nicht leiden. 

Plötzlich blieb die Bahn stehen und die Lichter gingen aus. Aber nicht nur dort, sondern einer Welle gleich verdunkelten sich auch die Straßenlaternen und die Schaufenster der Geschäfte. Selbst die Scheinwerfer der Autos auf der Straße erloschen und Tally hörte das Quietschen von Bremsen.

Ein Knistern ging durch die Luft, die Haare auf ihrem Körper stellten sich auf … und von einer Sekunde auf die andere zuckten Blitze über sie hinweg. In hellen Lichtbögen tanzten sie zwischen den Oberleitungen hin und her und erhellten die plötzlich so dunkle Straße. Der beißende Geruch von Ozon verbreitete sich.

Fasziniert und gleichzeitig beunruhigt betrachtet Tally das skurrile Schauspiel. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Die Leute um sie herum waren ebenfalls erstarrt oder hatten ihre Handys gezückt, um das Spektakel zu filmen. Wenige Augenblicke später war es vorbei, die Lichter um sie herum erwachten flackernd zum Leben. Die Bahn fuhr weiter.

»Was zur Hölle war denn das eben?«, fragte ein älterer Mann neben ihr.

»Ich habe keine Ahnung«, murmelte Tally. 

Ein Mädchen vor ihr, das die Hand einer älteren Frau hielt, fragte angespannt: »Mama, passiert es wieder?«

»Ich weiß nicht, mein Schatz«, erwiderte ihre Mutter und lächelte. Es war ein unsicheres Lächeln, ein sorgenvolles. 

Die Ampel sprang auf Grün und Tally setzte ihren Weg fort. Dabei warf sie einen Blick auf die Oberleitungen, unter denen sie hindurchging. Nichts erinnerte mehr an das bizarre Schauspiel von eben, alles sah normal aus. Aber die Welt war nicht mehr normal.

Tallulah dachte an die Worte des Mädchens. Sie selbst – und jeder andere Mensch auf der Welt – wusste genau, was die Kleine mit es gemeint hatte. Sechs Monate war es her, da war es passiert. Etwas, das die gesamte Menschheit für unmöglich gehalten hatte.

Ein Gott war erwacht.

Tally wusste noch den exakten Zeitpunkt, und was sie gerade getan hatte. Es war ein Mittwoch im Mai gewesen. Sie war bei der Arbeit gewesen, hatte konzentriert an einem komplexen Schaltkreis gearbeitet, als von einer Sekunde auf die andere ihr Handy wie verrückt vibriert hatte.

Nach mehr als dreitausend Jahren war wieder ein Gott auf der Welt erschienen. Jedes Kind lernte im Geschichtsunterricht darüber. Von der Zeit, als die Menschheit von Gottheiten beherrscht worden war. Bis zu dem Tag, an dem sie einfach verschwunden waren und damit eins der dunkelsten Kapitel der Menschheit eingeläutet hatten. 

Man sagte, dass das Blut der Opfer aus den Kriegen damals die Flüsse und das Meer rot gefärbt hatte.

Manche Skeptiker waren gar der Meinung, dass es die Götter nie wirklich gegeben hatte. Dass das alles nur ein Hirngespinst der Menschen damals gewesen war und sie sich aus anderen Gründen derart heftig bekriegt hatten. 

Aber seit diesem Tag im letzten Mai, als in einer südamerikanischen Kleinstadt der erste Gott seit Jahrtausenden erwacht war, hatten sowohl Zweifler als auch Gläubige ihren unumstößlichen Beweis: Isaac Naveda war ein lebender, atmender Gott.

Willkommen in der neuen Realität, dachte Tally.

Mittlerweile war sie bei ihrer Firma angekommen, stieg die Treppen zu den Büros hoch und zog ihren Mantel aus. Unter ihren Füßen fühlte sie die Vibrationen der Maschinen, die im Erdgeschoss in der Fabrik arbeiteten. Hier oben jedoch war es dank der speziell gedämmten Decke ruhig.

»Guten Morgen, Isabell«, rief Tally fröhlich, als sie die Kaffeeküche betrat.

Ihre Kollegin drehte sich um und musterte sie von Kopf bis Fuß. »Warum bist du denn so gut gelaunt heute?«

»Ich hab keine Ahnung«, erwiderte sie, schenkte sich Kaffee ein und zwinkerte ihrer Kollegin zu.

Diese hob skeptisch eine Augenbraue. »Bist du krank?«

»Hey, du tust ja gerade so, als wäre gute Laute etwas Schlechtes. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich heute alles schaffen kann.«

»Na, dann mach dich mal schnell an die Arbeit«, erwiderte Isabell. »Wenn du schon so inspiriert und voller Tatendrang bist.«

»Du wirst schon sehen«, sagte Tally grinsend. Dann fiel ihr Blick auf das Bild ihrer letzten Weihnachtsfeier und ihr Lächeln verblasste.

»Hast du mal wieder etwas von Björn gehört?«

»Nicht seit seinem Besuch im Herbst«, antwortete Isabell. Sie seufzte tief und warf ein Stück Zucker in ihren Kaffee. »Es ist so verrückt, was da passiert ist. Weißt du noch, was mit meiner Nachbarin war?«

»Frau Hakonsen?«, fragte Tally. »Die kein Schwedisch mehr sprechen konnte?«

Isabell nickte. »Sie ist letzte Woche nach Madrid umgezogen, weil sie es einfach nicht mehr lernen konnte. Immerhin spricht sie jetzt perfekt Spanisch.«

»Verrückt«, murmelte Tally. Sie lehnte sich an die Arbeitsplatte und nahm einen ersten Schluck Kaffee.

Isaac Navedas »Erwachen« hatte die ganze Welt erschüttert. Es hatte nicht lange gedauert, bis die Leute begriffen hatten, welche Art von Gottheit er war. Überall hatten die Menschen wichtige Dinge vergessen oder sie auf einmal gewusst. Musiker konnten auf einmal nicht mehr ihr Instrument spielen. Große Wissenschaftler verloren über Nacht ihre gesamte Expertise, dafür hatten andere Menschen explizites Fachwissen aus Gebieten, mit denen sie sich nie zuvor beschäftigt hatten.

Da war es naheliegend, dass kurz darauf von Arca – der Organisation, die sich um den neuen Gott formiert hatte - verkündet worden war, dass es sich bei Isaac Naveda um den Gott des Wissens und der Weisheit handelte.

Tally seufzte und sagte: »Ich verstehe nicht, warum man ihn Gott des Wissens nennt, wenn die Leute genauso viel vergessen, wie sie neu lernen.«

»Ich weiß auch nicht«, antwortete Isabell und zuckte mit den Schultern. »Das haben die Leute von Arca beschlossen.«

»Stimmt«, murmelte Tally.

Mit diesen Gedanken im Kopf verließ sie die Kaffeeküche und ging in ihr Büro. Sie setzte sich ihre Kopfhörer auf, startete ihre Playlist und fuhr ihren Computer hoch. Sie atmete tief durch, schob die verwirrenden Gedanken beiseite und begann zu arbeiten.

Sie vertiefte sich völlig in die Arbeit. Verlor sich in winzigen Details der Schaltkreise und Platinenaufbauten. Sie war mitten im Flow, es war wie ein Rausch.

Erst Stunden später, als ihr Magen sich vehement meldete, löste Tally den Blick von ihrem Bildschirm. Es war bereits halb zwei und sie hatte nicht einmal ihren Kaffee getrunken, der kalt und vergessen neben ihrer Tastatur stand. Dennoch fühlte sie sich noch immer voller Energie.

Da sie aber wusste, dass es so nicht ewig weitergehen konnte und sie eher früher als später in ein Loch fallen würde, zwang sich Tally, die Arbeit zu unterbrechen. Sie würde, trotz der dunklen Wolken draußen, einen kurzen Spaziergang machen und sich dabei etwas zu Essen holen.

Sie nahm die Kopfhörer ab, griff nach ihrer Handtasche und ging in Richtung Treppen. Sie durchquerte gerade die Eingangshalle in Richtung Ausgang, als das Licht über ihr flackerte. Tally blieb stehen und sah nach oben.

»Das ist schon das vierte Mal heute«, kam es von der Seite. Tally drehte sich um und entdeckte Sven, der von der Fabrikhalle auf sie zu kam. Ihr Teamkollege blieb neben ihr stehen und sah zu den Deckenleuchten.

»Was meinst du ist der Grund für diese Schwankungen im Stromnetz?«, fragte Tally

Sven zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ein defekter Transformator. Oder es kommt ein Sonnensturm auf uns zu.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Weil das echt gefährlich ist. Ich war letzten Monat auf einer Konferenz und da war das ein Thema. Der nächste heftige Sonnensturm könnte alles grillen, was mit Elektrizität zu tun hat und uns direkt zurück in die Bronzezeit katapultieren.« 

»Ernsthaft?«, fragte Tally.

»Ja.« Er grinste schief und sagte: »Lass uns hoffen, dass wir wenigstens davon verschont bleiben.«

Sven verabschiedete sich und ging in Richtung der Aufzüge. Tally setzte sich in Bewegung und verließ das Gebäude.

Ich sollte heute Abend die Nachrichten lesen, dachte sie bei sich. Vielleicht wusste schon jemand mehr über diese Aussetzer. Wenn es nur ein lokales Problem war, dann würde es sicher bald gelöst werden. Falls nicht, dann wäre es trotzdem gut zu wissen, was diese Störungen verursachte.

Donner grollte über ihr und Tally runzelte die Stirn. Ein Gewitter? Mitten im Winter?

Sie sah hoch in die Wolken, die sich pechschwarz und unheilverkündend über ihr auftürmten. Tatsächlich leuchtete es in der düsteren Masse immer wieder auf und wenige Augenblicke später zuckten die ersten Blitze über den Himmel.

Die Spannung in der Luft verdichtete sich so stark, dass Tally das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können. Die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf, ihre Muskeln begannen zu zittern und ihr Herz schlug heftig gegen ihre Rippen. Das Blut wummerte in ihren Ohren, so dass sie kaum noch das anhaltende Donnern hören konnte.

Hatte sie einen Herzinfarkt? Eine Panikattacke? Sollte sie einen Krankenwagen rufen? Was war nur mit ihr los?!

Mit weichen Knien wollte Tally weitergehen, zurück in die Firma, doch daraus wurde nichts.

Sie hatte kaum zwei Schritte getan, da brach die sprichwörtliche Hölle über ihr los: Blitze schossen über den Himmel, tauchten den Platz in gleißendes Licht und verbreiteten den Geruch nach Ozon. Ein Blitz nach dem anderen schlug in den Boden um Tally ein, ließ die Luft explodieren und hinterließ eigenwillige Muster auf dem Stein. Die Einschläge kamen ihr immer näher und Tally wusste, dass sie Angst haben sollte, sich irgendwie schützen musste, weil ein Blitzeinschlag in den menschlichen Körper tödliche Folgen haben konnte, aber gleichzeitig konnte sie sich keinen Zentimeter vorwärts bewegen.

Stattdessen stand sie mitten in diesem Regen aus purer Energie, sah zum Himmel auf und lachte. Sie musste wohl den Verstand verloren haben, denn in dieser Todeszone fühlte sie sich freier und lebendiger als jemals zuvor in ihrem Leben. Sie streckte eine Hand in die Höhe und grinste, als ein gewaltiger Blitz direkt auf sie zukam. Wie in Zeitlupe sah sie, wie sich das gezackte Licht auf sie zu bewegte …

… und sie mit voller Wucht traf.

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