Leseprobe "Erkennen"

Der fünfte Band der Urban-Fantasy-Reihe "New Gods"

Kapitel 1

Applaus toste durch den Raum, begleitet von Pfiffen und lautem Johlen. Wie das Meer an den Klippen rauschte er, schwoll an und nahm wieder ab, nur um dann mit noch mehr Macht zurückzukehren. Währenddessen verbeugten sich die beiden Künstler auf der Bühne, ihre Gesichter strahlten vor Freude.

»Bravo!«, rief Soleia und klatschte ebenfalls. Ihre Hände brannten bereits, aber das war egal. Sie war stolz auf das Duo und glücklich, dass das Publikum begeistert war von der Vorstellung. 

Soleia pfiff ein letztes Mal durch die Finger, dann griff sie nach dem Seil für den Vorhang und ließ ihn langsam herunter. Der Beifall brandete noch einmal auf und die Sängerin sowie der Pianist verbeugten sich tief. Sobald der dicke Samt den Boden berührte, dämpfte er die Geräusche des Publikums.

Erst jetzt richteten die beiden sich auf und fielen sich in die Arme. Soleia sicherte das Seil und eilte zu ihnen. Von der anderen Seite des Vorhangs waren nun fröhliche Stimmen zu hören, genauso wie das Rücken von Stuhlbeinen und Gelächter.

»Das war großartig«, lobte Soleia. Estella und James kamen auf sie zu ehe sich Soleia versah, wurde sie von James umarmt und von den Füßen gehoben.

»Das haben wir nur dir zu verdanken!«, sagte der große Pianist. Er setzte sie wieder auf dem Boden ab und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

»James hat recht«, beteuerte Estella und griff nach Soleias Händen. »Vielen Dank, dass wir einige unserer eigenen Stücke heute Abend spielen durften.«

»Das habt ihr euch verdient«, erwiderte Soleia und drückte sanft Estellas Finger. »Eure Musik ist wunderschön. Ihr kommt doch auch morgen Abend wieder?«

»Auf jeden Fall!«, beteuerte James.

Soleia grinste. »Wunderbar. Ich freue mich und jetzt mischt euch unter das Publikum, sie warten sicher schon auf euch.«

Gemeinsam verließen sie die Bühne und während Estella und James in den Zuschauerraum gingen, verschwand Soleia zurück hinter die Kulissen. Dort zog sie ihr Handy heraus, machte sich eine Notiz und eilte anschließend durch die Gänge in den Zwischenwänden in Richtung Vorraum. Sie waren schmal und im Gegensatz zum Theater nur spärlich ausgeleuchtet, aber Soleia brauchte nicht mehr Licht. Sie kannte das Lucecita wie ihre Westentasche und hätte sich auch mit verbundenen Augen zurechtgefunden. Immerhin war es ihr Theater, ihr »kleines Licht«.

So trat sie wenige Augenblicke später durch eine schmale Tür, die in die Wandvertäfelung eingelassen war, in den Vorraum. Noch immer lachten und unterhielten sich die Gäste, während sie langsam das Theater verließen. In der Nähe des Ausgangs entdeckte Soleia Antonio und ging auf ihn zu.

»Läuft alles gut?«

»Alles bestens, Chefin«, erwiderte Antonio mit einem breiten Lächeln. »Alle sind bester Laune und ich denke, dass die Bars im Viertel noch einiges an Umsatz heute Abend machen werden.«

»Das freut mich zu hören.« Soleia seufzte verträumt und fügte hinzu: »Waren die Lieder von Estella und James nicht wundervoll? Ich hatte richtig Gänsehaut.« 

»Ja, zwei besonders talentierte junge Menschen«, sagte Antonio. »Da hattest du echt ein gutes Händchen bei der Auswahl.«

»Denke ich auch.«

Mittlerweile war der Großteil der Gäste gegangen. Zufrieden ließ Soleia ihren Blick über die nun fast leere Eingangshalle schweifen, über die mit Stuck verzierten Decken, die matten Goldverzierungen an den Wänden und den Kronleuchtern. Alles war mit einer Patina überzogen, die wie das ganze Theater auch den Charme vergangener Zeiten verströmte – was leider auch dazu führte, dass Soleia ständig an allen Ecken und Enden das Gebäude ausbesser musste. Ihre To-Do-Liste war endlos und sie musste …

Ein deutliches Grummeln unterbrach Soleias Gedankengänge.

»O ha«, sagte Antonio und lachte. »Hat da jemand schon wieder das Abendessen ausfallen lassen?«

»Irgendwie schon«, ächzte Soleia. Sie legte sich eine Hand auf den Magen, um dessen unzufriedenes Gluckern zu dämpfen. »Ich wollte eigentlich heute Nachmittag noch schnell einkaufen gehen, aber dann kamen Estella und James für die Proben und ich wollte sie nicht alleine lassen. Sie waren heute ziemlich nervös.«

»Das hat man ihnen aber auf der Bühne nicht angemerkt.«

»Fand ich auch«, bestätigte Soleia über die unpassenden Kommentare ihres Magens hinweg.

Abermals lachte Antonio. »Los, besorg dir etwas zu essen. Sonst kippst du mir noch um. Außerdem warst du sicher schon länger nicht mehr einkaufen, oder?«

»Ja, vielleicht«, seufzte Soleia. »Bist du sicher, dass du den Rest auch alleine schaffst?«

»Aber natürlich«, beteuerte Antonio. »Jetzt geh endlich, bevor du unleidlich wirst.« 

»Ja, Papa Antonio«, erwiderte Soleia betont liebenswürdig.

»Sei froh, dass ich nicht wirklich dein Vater bin«, brummte Antonio. »Und jetzt geh, geh.« Bei seinen Worten machte er eine Handbewegung, als würde er einen streunenden Hund verscheuchen. Gut gelaunt ging Soleia zu dem kleinen Kassenhäuschen neben dem Haupteingang und holte ihre Handtasche. Sie winkte Antonio noch ein letztes Mal zu, dann verließ sie das Theater.

Sofort strich ein feucht-warmer Wind über sie hinweg und kühlte den Schweiß auf ihrer Haut. Es roch nach Meer, nach Autoabgasen und dem Rauch eines Grillfeuers ganz in der Nähe. Es war der Geruch nach Havanna, nach Heimat.

Lächelnd löste Soleia ihren Pferdeschwanz, band ihn neu und beschleunigte ihre Schritte. Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause, aber erst einmal musste sie sich etwas zu Essen organisieren.

Auf dem Weg zur Bodega holte sie sich von einem der Straßenhändler eine warme Tortilla auf die Hand, die sie mit wenigen Bissen verschlang. Sofort ließ ihr Hunger nach und sie fühlte sich schon besser, als sie an ihrem Ziel ankam. Das Klingeln der alten Glocke über der Tür des Lebensmittelladens hieß sie Willkommen, genauso wie die freundliche Miene von Renata.

»Soleia!«, rief die betagte Besitzerin, kam um den Tresen herum und zog Soleia in eine feste Umarmung. »Wie schön, dich zu sehen.«

»Guten Abend Renata. Geht es dir gut?«

»Du weißt doch, ich bin unverwüstlich.« Renata löste sich von ihr und lächelte. Doch dann runzelte sie die Stirn, musterte Soleia von oben bis unten und fragte: »Kindchenwie siehst du aus? Ganz dünn bist du geworden!«

»Deswegen bin ich auch hier«, antwortete Soleia. »Meine Küche daheim ist leer. Ich wollte noch schnell einkaufen und dann Zuhause ordentlich kochen.«

»Aber natürlich«, sagte Renata. Sie ging zurück hinter die Theke zu dem Regal, welches sich dort bis fast unter die Decke erstreckte. »Du hast Glück, ich habe noch alles vorrätig. Was brauchst du?«

Soleia zog ihr Handy heraus und öffnete ihre Einkaufs-App. »Reis, schwarze Bohnen, Dosentomaten und Eier.«

»Kein Problem.« Renata wandte sich den Regalen zu und suchte Soleias Einkäufe zusammen. Dabei sagte sie über ihre Schulter: »Mein Enkel Silvio war letzte Woche in einer deiner Kinovorstellungen. Irgendeinen französischen Film hast du gezeigt … von einer jungen Frau, die immer Selbstgespräche führt?«

»So in etwa«, sagte Soleia amüsiert. »Du musst unbedingt auch wieder vorbeikommen.«

»Tue ich, wenn die Arbeit es zulässt.«

»Ich lasse dir das Programm für den nächsten Monat da.« Soleia kramte in ihrem Rucksack und legte einen zerknitterten Flyer auf den Tresen. 

»Tüchtiges Mädchen«, sagte Renata grinsend. Sie gab die Einkäufe in ihre Registrierkasse ein und Soleia machte sich daran, alles einzupacken. Dabei gab ihr Magen ein leises Gluckern von sich. Obwohl sie eben erst etwas gegessen hatte, war Soleia schon wieder hungrig. Sie war froh, dass sie die einzige Kundin war, so dass niemand sonst das Wehklagen ihrer Eingeweide hörte.

»Hast du schon das Neuste gehört?«, erkundigte sich Renata.

»Was denn?«

»Diese Insel ankert nun direkt vor unserer Küste«, sagte Renata. Sie beugte sich etwas weiter über den Tresen und senkte die Stimme. »Du weißt schon, diese künstliche mit den sogenannten Göttern.«

»Ja, davon habe ich gehört«, erwiderte Soleia. »Manchmal kriege selbst ich ein bisschen Weltgeschehen mit. Was meinst du, wie lange sie bleiben?«

»Keine Ahnung. Bis zum Jahreswechsel hoffentlich. So stehen die Chancen gut, dass wir keinen weiteren Hurrikan abbekommen. Dem Herrn sei Dank.« Renata bekreuzigte sich und küsste die kleine Heiligenikone, die sie als Silberanhänger um den Hals trug.

»Oh, stimmt«, murmelte Soleia. Seit vor drei Monaten mit Kiva Luong eine Luftgottheit erwacht war, war die Menschheit Stürmen nicht mehr hilflos ausgeliefert. Zumindest in der Theorie. Die Medien überschlugen sich mit Spekulationen darüber, was die neuen Gottheiten alles tun konnten – und warum sie es nicht taten.

»Antonio hat mir erzählt, dass sie sich wohl an einigen Hilfsaktionen in der ganzen Golfregion beteiligen«, sagte Soleia.

»Das ist auch gut so«, betonte Renata. »Ich muss ja sagen, ich war zuerst skeptisch, aber mittlerweile denke ich, dass unser Vater im Himmel diese Leute geschickt hat.«

Soleia lächelte schief und nickte. Mit Renata über die neuen Gottheiten zu diskutieren, war ein zweischneidiges Schwert. Wie auch die anderen gläubigen Christen im Viertel war Renata persönlich beleidigt, wenn man es wagte, diese Leute mit dem einen Gott auf eine Stufe zu stellen.

»Ich finde es gut, dass sie helfen wollen«, sagte Soleia, stopfte die letzte Konservendose in ihre Tasche und bezahlte. »Außerdem ist es beruhigend, dass sie sich unabhängig halten und nicht den Großkonzernen oder den reichen Staaten in den Arsch kriechen.«

»Woher hast du nur solche Worte?«, fragte Renata und zog eine Augenbraue nach oben.

Als Soleia lachte, schüttelte die Ladenbesitzerin den Kopf und wünschte ihr einen schönen Abend. Soleia verabschiedete sich, schulterte ihre Tasche und ging wieder hinaus auf die Straße. In der Ferne hörte sie das Schlagen der Kirchturmuhren.

Halb elf.

Mit dem Riemen ihrer Tasche über der Schulter, ging sie durch die dunklen Straßen. Noch immer war die Luft lau, ein Auto fuhr mit tuckerndem Motor an ihr vorbei und aus einer Bar einige Straßen weiter erklang Salsa-Musik.

Soleia war nur noch zwei Ecken vom Lucecita entfernt, da bemerkte sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Sie drehte den Kopf, doch statt einer Person oder eine streunende Katze zu sehen, war in der schmalen Gasse … nichts.

Irritiert blieb Soleia stehen. Sie sah noch immer eine Bewegung: direkt in den Schatten. Wie lebendige Wesen wogten sie hin und her.

»Was zur Hölle ist das?« Sie kniff die Augen zusammen. War da doch ein Tier? Vielleicht mit schwarzem Fell? Wenn da doch nur mehr Licht wäre, dann …

Von einer Sekunde auf die andere flackerte die Straßenlaterne am anderen Ende der Gasse und strahlte gleich darauf gleißendes Licht aus. Statt die Augen zu schließen und sich davor zu schützen, sah Soleia mitten hinein in das Licht.

Es war so warm, so schön, so lebendig!

Soleia hatte das Gefühl, als würde dieses reine Licht sie umarmen und in jede ihrer Poren dringen. Glücklich ließ sie den Kopf in den Nacken fallen und spürte, wie mehr und mehr des Lichts sie erfüllte.

Dann war der Spuk so schnell vorbei, wie er eingesetzt hatte.

Dunkelheit umgab Soleia, aber auch die war warm und heimelig. Blinzelnd sah sie sich um, bemerkte in den nun wieder finsteren Ecken der Gasse Bewegungen und lachte leise vor sich hin. Was war denn das gewesen?

Kopfschüttelnd setzte sie ihren Weg fort. Wahrscheinlich war das eine Folge des Unterzuckers oder die viele Arbeit. Sie musste etwas kochen und am besten gönnte sie sich gleich noch ein langes Bad. Es war sicher kein gutes Zeichen, wenn sie solche seltsamen Dinge sah.

Aber statt besorgt zu sein, fühlte sich Soleia energiegeladen. Lächelnd schloss sie die Hintertür des Theaters auf, trat in den schmalen Flur und betätigte den Lichtschalter – aber es blieb dunkel.

»Nicht doch«, brummte Soleia und sah nach oben. Was das nur wieder ein kurzer Stromausfall oder war die Glühbirne kaputt? Sie dachte gerade darüber nach, wie wenig Lust sie hatte, die Birne schon wieder tauschen zu müssen, da flammte die Lampe plötzlich auf. Das Licht flackerte und pochte … genauso wie Soleias Herzschlag. 

»Das ist doch verrückt«, sagte sie leise, schüttelte den Kopf und stieg die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf. Auf halber Strecke erfasste sie Schwindel, ihr wurde schwummerig und sie griff haltsuchend nach dem Treppengeländer. 

Soleia biss die Zähne zusammen und ging weiter. All die ungewohnte Energie floss aus ihr heraus, ließ ihre Glieder schwer wie Blei werden. Es kostete sie immer mehr Kraft, vorwärtszukommen. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt und sie schaffte es gerade noch so in ihre Wohnung. 

Dort knickten ihr im Flur die Beine weg und sie sank auf den Boden. Ihre Tasche fiel hinunter und ein Teil ihrer Einkäufe kullerte über das Parkett. Das Licht der Straßenlaternen, das von draußen hereinkam, flackerte und tanzte über Soleia hinweg. Es sah wunderschön aus.

Wie losgelöst dachte Soleia darüber nach, ob sie gerade einen Schlaganfall oder etwas Ähnliches hatte. Doch statt von Sorge oder Angst, wurde sie von einem überwältigenden Glücksgefühl überschwemmt. Sie lachte leise vor sich hin, dann herrschte Dunkelheit um sie und sie glitt in ein warmes, weiches Nichts.

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