Leseprobe "New Gods: Erbarmen"

Buchcover zu "New Gods: Erbarmen", dem sechsten Teil der Romantic-Fantasy-Buchreihe von Melissa Ratsch

Kapitel 1

 

 Missmutig blätterte Shiro durch den Ordner, das Papier raschelte leise dabei. Es waren die Ergebnisse der neusten Recherchezusammenfassung, die seine Mutter ihm geschickt hatte. Jedes Mitglied seiner Familie hatte daran gearbeitet, doch sie hatten keine neuen Kenntnisse erlangt.

 

»Unsere Ahnen drehen sich sicher gerade in ihren Gräbern um«, murmelte er. Mit einem Ächzen legte er den Ordner beiseite, sank auf seinem Stuhl zurück und rieb sich über die Augen. Dumpfe Kopfschmerzen pochten in seinen Schläfen, er war müde und ausgelaugt nach einem anstrengenden Tag und fand doch keine Ruhe.

Seit zwei Wochen arbeitete er wie ein Besessener und versuchte herauszufinden, warum er nichts von den Ketten von Oëmis gewusst hatte.

Unter halb geschlossenen Lidern musterte Shiro die besagten Ketten, die auf seinem Schreibtisch lagen. Sie sahen so unscheinbar aus, so gewöhnlich. Trotzdem waren sie in der Lage, die Kraft einer Gottheit zu versiegeln. Wie zur Hölle war das möglich?

Und warum hatte seine Familie keinerlei Aufzeichnungen darüber?

Abermals schwirrten Fragen in seinem Kopf herum und verstärkten das Pochen in seinem Schädel. Wenn er keine Antworten fand, dann schwebten die Gottheiten auf der Insel weiter in großer Gefahr – und es wäre seine Schuld, wenn ihnen etwas zustieße. Genau wie vor acht Monaten bei Faye würde ihr Blut an seinen Händen kleben. Nur, weil er als Hohepriester versagt hatte.

Übelkeit stieg in ihm auf und Shiro schluckte trocken.

Kaum hatte er sich einigermaßen von diesem Schock und der Trauer erholt, steckte er nun wieder mitten drin in dieser toxischen Spirale. Vor allem, seit er wusste, wer genau dafür verantwortlich war.

Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Arty stand auf der Türschwelle und Erleichterung über die Ablenkung erfasste ihn - und das, obwohl Arty ihn eindeutig unzufrieden musterte.

»Arty«, sagte er rau.

»Du weißt schon, wie spät es ist?« Sie betrat sein Büro. »Kurz nach Mitternacht. Glaub nur nicht, dass ich nicht bemerke, wie du versucht, dich zu Tode zu arbeiten. Wann hast du das letzte Mal länger als vier Stunden geschlafen?«

»Du arbeitest genauso viel«, konterte Shiro. »Immerhin bist du jetzt auch noch wach, oder?«

»Ja, aber ich habe mir in den letzten zwei Wochen sehr viel mehr Ruhe gegönnt als du. Wenn du so weiter machst, klappst du zusammen, und dann bist du mir und den anderen keine Hilfe mehr.«

»Mir geht es gut.«

»Du siehst nicht gut aus.«

»Dann schau mich nicht an.«

Statt abermals zu kontern oder ihm eine Beleidigung an den Kopf zu werfen, lachte Arty. Sie setzte sich ihm gegenüber auf einen der Sessel und schlug ein Bein über. Dabei sah sie ihn an, noch immer ein amüsiertes Funkeln in den Augen.

»Weißt du, an was ich die Tage denken musste?«, fragte sie.

»Nein, an was?«

»An unser erstes Treffen.« Arty seufzte tief und schüttelte den Kopf, dabei rutschten einige ihrer dunklen Strähnen aus ihrem Haarknoten. »Damals in Argentinien hätte ich dir am liebsten den Hals umgedreht, weil du dich in meine Angelegenheiten eingemischt hast.«

Obwohl er es nicht für möglich gehalten hätte, musste Shiro lächeln. »Du hast es später ein paar Mal versucht.«

»Du aber auch«, erwiderte Arty.

»Zum Glück haben wir es beide nicht geschafft.«

Langsam nickte Arty.

Eine angenehme Stille entstand. Shiro war in den vergangenen Monaten immer wieder aufgefallen, wie sich die Dynamik zwischen ihnen verändert hatte. Von ständiger Konfrontation und Kampf zu etwas sehr viel Konstruktiverem. Sie stritten immer noch, aber mit einem ganz anderen Unterton.

»Wir zwei sind weit gekommen«, sprach Shiro seine Gedanken laut aus, doch der Hauch von Zufriedenheit wurde sofort wieder von der nach wie vor vorhandenen Bedrohung für die Gottheiten vernichtet. »Aber mit Arca noch nicht weit genug.«

»Shiro«, seufzte Arty, beugte sich nach vorn und stützte die Unterarme auf die Knie. »Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Du bist frustriert und angepisst, weil du keine Antworten hast. Mir geht es genauso und -«

»Nein«, unterbrach er sie. »Bei mir ist es anders. Deine Forschung ist wichtig, aber von ihr hängt nicht das Leben der neuen Gottheiten ab. Wenn ich keine Antworten finde, dann stirbt wieder jemand!«

Shiro sprang auf und ging in seinem Büro auf und ab. Er hatte das Gefühl, als würde jeden Moment seine Haut platzen.

Arty hingegen saß stumm auf ihrem Stuhl und sah ihm bei seiner Wanderung zu. »So lange diese Todesgöttin nicht in die Nähe unserer Freunde kommt, sind sie in Sicherheit.«

Sienna, dachte Shiro. Er presste die Zähne fest aufeinander, so dass es schmerzte. Der Tag, an dem Zac dieses Detail offenbart hatte, war kein guter Tag gewesen. Als Zac das Geheimnis gelüftet hatte, wie man einen Gott tötete: ein Gott für einen Gott.

Warum war Shiro nicht auf die Idee gekommen, dass es kein Dolch oder keine andere Waffe gewesen war, die Faye getötet hatte?

Warum wusste er so verdammt wenig?!

»Das hilft nicht«, sagte Shiro. »Du weißt so gut wie ich, dass wir die Gottheiten nicht ewig hier auf der Insel isolieren können. Früher oder später werden sie einen Lagerkoller bekommen und wir genauso. Außerdem gibt es da draußen so viel für sie zu bewirken. Schon jetzt stapeln sich die Anfragen bis unter die Decke.«

Arty seufzte leise. »Und nicht nur die. Der Vorfall in Haiti hat auch die Unruhen in der Politik wieder angeheizt. William und ich schaffen es kaum noch, die Wogen zu glätten.«

»Warum weiß ich davon nichts?!«, platzte es aus Shiro heraus.

Arty hob skeptisch eine Augenbraue und gab ihm damit das Gefühl, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Weil du schon jetzt unter großem Druck stehst. Hätte ich nicht deine Aufgaben übernommen, dann wärst du schon längst zusammengeklappt.«

Shiro öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen … und schloss ihn wieder. Arty hatte recht. Er balancierte seit Tagen auf der Kante und ein weiterer Windstoß würde ihn einfach in den Abgrund wehen.

Aber damit würde er seinen Freunden, würde er Arca nicht helfen.

»Scheiße«, fluchte er und rieb sich über das Gesicht. Seine Schultern sackten nach unten und er atmete langsam aus. Die Hände noch immer über den Augen, hörte er, wie Arty aufstand und zu ihm kam. Die Wärme ihres Körpers strich über seine Haut.

»Komm schon«, sagte sie überraschend sanft. Dabei fasste sie nach seinem Ellenbogen und zog daran. Shiro ließ die Arme sinken und erkannte das Verständnis und gleichzeitig die Aufforderung in Artys Augen.

»Geh ins Bett, Shiro.« Sie trat von ihm zurück, schaltete die Tischlampe aus und deutete zur Tür. Müde und geschlagen nickte Shiro und trat hinaus auf den Flur, dicht gefolgt von Arty. Seine Kopfschmerzen wummerten mittlerweile heftig gegen seine Schädeldecke und er hatte Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Schweigend begleitete Arty ihn vom Forschungstrakt in den Gebäudeteil mit den Appartements. Vor seinem Zimmer blieben sie stehen und er drehte sich zu ihr um.

»Können wir morgen über die politische Lage sprechen?«

Arty seufzte. »Shiro, ich denke nicht –«

»Bitte«, unterbrach er sie. »Das ist doch im Moment wichtiger als die Frage, warum ich von Oëmis‘ Ketten nichts wusste. Vor allem kann ich aktiv etwas beisteuern, statt mir nur das Hirn zu zermartern.«

Einige Sekunden blieb Arty stumm und er rechnete schon damit, dass sie sich weigern würde, doch dann seufzte sie und nickte. »Aber erst, wenn du dich endlich mal wieder ausgeschlafen hast.«

»Danke. Auch dafür, dass du so stur sein kannst.«

Wie erwartet lachte Arty. »Einer muss dir ja den Kopf zurechtrücken und hey, ich habe da Übung drin. Gute Nacht, Shiro.«

»Dir auch, Arty.«

Wie auf Autopilot betrat er sein Apartment, nahm eine Schmerztablette und ging ins Badezimmer. Kurz darauf fiel er ins Bett. Nach wie vor gingen ihm Artys Worte durch den Kopf. Sie hatte also seine Aufgaben bei der Öffentlichkeitsarbeit übernommen. Dabei wusste Shiro genau, dass Arty lieber mit Essig gurgeln würde, als sich mit den geleckten Politikern und Politikerinnen herumzuschlagen.

Er schnaubte noch belustigt, drückte sein Gesicht ins Kissen und schlief innerhalb weniger Sekunden ein.

 

 

Release am 01.12.2023