Kapitel 1
„Ich kann nicht mehr.“
Als Wimmern kamen diese Worte über Devas Lippen. Sie kauerte in der hintersten Ecke der kleinen Hütte, in der sie sich seit zwei Tagen versteckt hielt. Es war ein zugiger Ort, die verfallenen Mauern hatten dem rauen Wetter kaum etwas entgegenzusetzen. Selbst das kleine Feuer, das sie gemacht hatte, konnte nichts gegen die Kälte in ihrem Unterschlupf ausrichten.
Unter normalen Voraussetzungen hätten Deva diese Widrigkeiten nichts ausgemacht, wären maximal lästig gewesen. Doch sie hatte sich noch immer nicht von ihren schweren Verletzungen erholt. Die große Wunde an ihrem Unterarm war entzündet. Jede noch so winzige Berührung fuhr als glühender Schmerz in ihre Schulter hinauf, strahlte in ihren gesamten Körper. Zusätzlich dazu waren die anderen Verletzungen nur notdürftig verheilt, einige brachen sogar immer wieder auf.
Deva versuchte, sich noch kleiner zu machen, als eine heftige Böe in die Ruine fuhr. Sie brachte kalten Regen mit sich, der schnell in ihre Kleidung sickerte. Ihr Magen zog sich zusammen, schmerzte wegen der Leere, die ihn schon seit zwei Wochen erfüllte.
Aus Angst davor, von ihrer eigenen Art entdeckt zu werden, traute sich Deva nicht in besiedeltes Gebiet. Die Einsamkeit auf diesem verlassenen Landstück, in dieser heruntergekommenen Hütte, war ihr einziger Schutz. Gleichzeitig drohte es ihr Untergang zu sein, denn die Vegetation gab keine Nahrung her.
Diese brauchte sie jedoch dringend, um ihre Kraftreserven wieder aufzufüllen, die völlig erschöpft waren. Die Verletzungen durch Noadja und ihre anschließende Flucht aus dem Turm hatten sie beinah über ihre Grenzen getrieben.
Eine heiße Träne rann über ihre Wange und sie presste die Lippen aufeinander. Sie mochte frei sein, doch sie war auch dabei zu sterben. Ganz allein, mitten im Nirgendwo würde sie sterben und niemanden würde es kümmern. Ganz im Gegenteil – die anderen Gaianati würden froh darüber sein, dass sie sie losgeworden waren.
Ich bin ganz allein, dachte Deva bitter. Mittlerweile zitterte sie am ganzen Körper, geschüttelt von der Kälte und von einem stummen Schluchzen. Sie wollte nicht sterben. Sie wollte leben… auch wenn das Leben bisher nicht gütig zu ihr gewesen war. Deva wollte sich dennoch daran klammern.
Aber sie war auch nicht dumm. Ihre Macht, die ohnehin nie besonders groß gewesen war, war zu einer mickrigen Pfütze zusammengeschrumpft. Sie litt entsetzlichen Hunger und war unendlich müde.
So am Ende kam ihr ein verrückter, geradezu wahnsinniger Gedanke. Wenn sie schon starb, dann wollte sie das nicht in einer menschenleeren Ruine tun. Nur ein einziges Mal in den Äonen ihrer Existenz wollte Deva an einem Ort sein, an dem es Wärme und Sicherheit gab.
Keine toxischen Machtstrukturen, die Schwäche gnadenlos bestraften. Kein ständiger Blick über die eigene Schulter und die andauernde Angst, unter den Stiefeln der Mächtigen einfach zerquetscht zu werden. Nur einmal wollte Deva etwas anderes kennenlernen.
Die Antwort auf die Frage, wo sie einen solchen Ort finden konnte, war denkbar einfach. In den zwei Wochen, die seit ihrer Flucht vergangen waren, hatte sie sich immer wieder davon abhalten müssen, dorthin zu gehen. Sie hatte sich eingeredet, dass sie es tun würde, wenn sie sich nur erholen würde.
Doch das geschah nicht und jetzt, wo der Tod schon seine sanften Finger nach ihr ausstreckte, fiel die Furcht von ihr ab. Das ‚Was wäre wenn‘-Karussell in ihrem Kopf verstummte und ließ sie mit diesem einen Wunsch zurück.
Langsam und unter Schmerzen erhob sich Deva aus ihrer kauernden Position. Sie atmete hektisch, während sich kalter Schweiß auf ihrer ohnehin feuchten Haut bildete. Selbst diese kleine Bewegung strengte sie immens an.
Aber es war nichts im Vergleich dazu, was sie jetzt tun wollte. Tun musste. Deva biss die Zähne zusammen, ballte ihre Hände zu Fäusten und setzte zum Sprung an. Für einige Herzschläge fürchtete sie, dass es ihr nicht gelingen würde. Ihre physische Gestalt flackerte, löste sich auf und setzte sich wieder zusammen…
… nur um dann doch den Standort zu wechseln.
Heftige Böen rissen an ihr und der Regen prasselte eiskalt und unbarmherzig auf ihren Körper. Sie schmeckte Blut und Galle auf der Zunge. Ihre Sicht war verschwommen, doch durch den Regen und die schwarzen Flecken erkannte sie dennoch das große Haus, vor dem sie stand.
Aber sie konnte sich nicht darüber freuen, denn sie verließen alle Kräfte. Deva stolperte, erwischte gerade noch die Klingel neben der großen Tür und ging dann zu Boden. Sie bemerkte nicht einmal mehr den Schmerz des Aufpralls, als sie auf den Steinstufen zusammenbrach. Da war nur samtige Schwärze, die sie mit offenen Armen willkommen hieß.
Deva begab sich mitten hinein, in der festen Annahme, nie wieder daraus zu erwachen.
Wie sich herausstellte, war sie nicht gestorben.
Noch nicht zumindest, denn als sie flatternd die Augen hob, sah sie sich einem leibhaftigen Teufel gegenüber: Einem Mann, der sprichwörtlich in Flammen stand und sie mit einem Hass anstarrte, der seines gleichen suchte.
„Lasst mich sie umbringen!“, forderte er und machte einen großen Schritt auf sie zu.
Instinktiv duckte sich Deva, krallte die Hände in Stoff und verbarg sich halb hinter der Person, die sie in ihrem Rücken fühlte. Ganz egal, wer auch immer das war, er oder sie konnte nicht furchterregender sein als dieser Mann.
„Samir, Schluss damit!“, rief eine Frauenstimme. Nein, sie befahl es und die Macht hinter ihren Worten war so immens, dass sie in Devas Knochen vibrierte.
Deva drehte den Kopf, ungeachtet der Schmerzen und des Schwindels, die diese Bewegung auslöste. Sie sah in das Gesicht einer Frau, die sie schon einmal gesehen hatte. Glaubte sie zumindest. Sie hatte helle Haut, dunkles Haar und saphirblaue Augen. Diese glommen und waberten, als würden sie aus leuchtendem Quecksilber bestehen. Ihr gehörte die Macht, die noch immer gegen Devas Nerven rieb.
Deva begann, am ganzen Körper zu zittern. War sie vom Regen in die Traufe geraten? Kein Abkömmling, dem sie in all den Jahrhunderten begegnet war, hatte je eine solch rohe Kraft ausgestrahlt. Das war schlicht unmöglich.
„Deva“, sagte eine andere Stimme. Eine bekannte Stimme. Deva wandte sich abermals um und sah sich einer zweiten Frau gegenüber. Auch sie hatte helle Haut, doch ihre Augen waren rauchblau und sie hatte platinblondes Haar.
Wo eben noch Furcht in ihr getobt hatte, breitete sich nun eine so große Freude aus, dass Deva noch stärker zitterte.
„Loana“, murmelte sie rau und streckte eine Hand nach ihr aus. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte sie sich leicht und frei. Nichts schmerzte und sie war so erleichtert, dass es ihr beinah wieder die Sinne raubte.
So lange zumindest, bis der Mann wütend forderte: „Marleen, nimm sofort den Bann von mir und lass mich dieses Miststück grillen!“
„Nein“, sagte die Frau hinter Deva. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sie in den Armen hielt. Nicht, als würde sie sie in ihrer Bewegung einschränken wollen. Es war eine sanfte Art von Umarmung. Eine, die Deva bisher nur aus der Entfernung hatte beobachten können.
Es wäre leicht, sich in diesem angenehmen Gefühl zu verlieren, doch etwas hinderte Deva daran. Wahrscheinlich war es der Rest ihres Überlebenswillens, der sie innerlich anschrie, dass der brennende Mann noch immer eine Gefahr für sie darstellte.
„Ich fordere meinen Gefallen!“, rief Deva rau und sah zu Loana. Diese sah sie überrascht an und blinzelte langsam.
„Was willst du?“, fragte sie langsam.
„Asyl“, brachte Deva heraus. Die Glücksgefühle von eben waren nun völlig verschwunden, wurden wieder ersetzt durch Schmerz, Hunger und diesem zermalmenden Gefühl von Erschöpfung. Vielleicht, nur vielleicht, würde ihr Körper noch ein wenig durchhalten.
„In Ordnung“, sagte die Frau hinter ihr. Marleen, so hatte der Feuerdämon sie genannt. Es war ein schöner Name, ebenso wie das Gefühl ihrer Arme, die sich etwas fester um Devas Körper legten.
Sie hörte noch, wie der Mann einen wütenden Schrei ausstieß und wie sich Schritte näherten. Dieses Mal, als sie in die Bewusstlosigkeit sank, wehrte sich Deva nicht dagegen. Ob sie der Tod oder nur der Schlaf erwartete, war ihr gleichgültig. Sie war an diesem himmlischen Ort, den Reika ihr in den Zellen des Labors beschrieben hatte.
Mit einem Seufzen schloss sie die Augen und ließ sich gegen den warmen Körper in ihrem Rücken sinken.