Kapitel 1
„Natalia.“
„Natalia, wach auf.“
„Natty!“
Japsend schreckte Natalia aus dem Schlaf und starrte in ein dunkles Paar Augen, das sie mit einer Mischung aus Besorgnis und Verwunderung ansah. Raven kniete vor dem Sofa im Gemeinschaftswohnzimmer, auf dem Natalia wohl eingeschlafen war. Sie setzte sich auf, so dass ihre Freundin neben ihr platznehmen konnte.
„Ich liebe dich wirklich“, sagte Natalia und rieb sich über das Gesicht, „aber ich bringe Owen und dich um und werfe euch von den Klippen ins Meer, wenn ihr nicht aufhört mich so zu nennen.“
Statt von ihrer Drohung beunruhigt zu sein grinste die Frau an ihrer Seite und stieß sie sanft mit der Schulter an. Natalia musste wirklich mehr an ihrem grausamen Ruf arbeiten, dann würde sie vielleicht auch endlich den verhassten Spitznamen aus der Kindheit loswerden.
„Ich weiß, dass du ihn nicht magst“, sagte Raven, „aber du hast geschlafen wie eine Tote und es war die einzige Möglichkeit, dich wach zu bekommen.“
„Raven wollte nicht, dass ich dich wecke“, kam es von der Tür. Dort stand Yue, ein kleines Lächeln auf dem Gesicht.
„Ich nehme meine Morddrohungen zurück“, sagte Natalia und grinste die Japanerin an, die sich zu ihnen gesellte. Da sie als Yuki Onna Schnee und Eis kontrollieren konnte, konnte sich Natalia schon denken, wie sie sie geweckt hätte. Und das wäre um einiges unangenehmer gewesen.
Yue war, zusammen mit zwei Ifrit, die neuste Bewohnerin auf dem Anwesen. Vor sieben Monaten war sie eigentlich hier gestorben und begraben worden. Eigentlich, denn nach knapp vier Wochen war sie in einer schneereichen Nacht wieder auferstanden. Wie genau, darüber zerbrachen sich die anderen Alii-Mitglieder noch immer den Kopf. Vor allem Nikolai war laut der Aussage seiner Partnerin kurz davor wie ein frustriertes Kind mit dem Fuß aufzustampfen.
Das Bild, dass sich daraufhin von dem großgewachsenen Russen mit den weißen Haaren in Natalias Kopf gebildet hatte, hatte sie herzlich lachen lassen. Auch Kaori hatte breit gegrinst, so dass man ihr ihre innere Füchsin angesehen hatte.
Jeder auf dem Anwesen im südenglischen St. Ives war glücklich gewesen, dass Yue wieder zu ihnen gefunden hatte. Am meisten sicher Samir, einer der beiden Ifrit. Er selbst hatte so seine Erfahrungen mit Wiedergeburten. Zuvor hatte Yue ihn als die Reinkarnation ihres Geliebten identifiziert, der vor über zweihundert Jahren gestorben war.
Das Ganze war selbst für ihre Verhältnisse verrückt und doch nicht weniger wahr.
Immerhin wird es so nicht langweilig, dachte Natalia zufrieden. Sie rieb sich über den noch immer verspannten Nacken und fragte: „Was gibt’s, dass ihr mich geweckt habt?“
Statt zu antworten runzelte Raven die Stirn und wollte wissen: „Wie viel hast du letzte Nacht geschlafen? Und die davor?“
„Du weißt doch, dass Lamia nicht so viel schlafen müssen wie andere Monster oder Menschen.“
„Ja, aber Owen sagt, dass du selbst für eure Verhältnisse zu wenig schläfst“, sagte Raven. In ihren dunklen Augen lag ein unzufriedener Ausdruck.
Natalia wandte den Blick ab. Die Gefährtin ihres besten Freunds war auch eine gute Freundin für sie geworden und auch mit Yue, die so herrlich verschroben sein konnte, verstand sie sich gut. Eigentlich mit allen auf dem Anwesen. Sie waren eine eigenwillige Mischung aus Familie, Geheimbund und Dauerferienlager. Und trotzdem widerstrebte es Natalia, mit Owen oder einem der anderen über ihre Schlafprobleme zu sprechen.
Denn wenn sie das täte, dann müsste sie auch von den Träumen erzählen. Ein Schauer lief über Natalias Rücken, sie schob den Gedanken schnell beiseite.
Stattdessen setzte sie ein Lächeln auf, welches sie in den letzten zwanzig Jahren perfektioniert hatte, und sagte: „Mir geht es gut, ihr müsst euch keine Sorgen machen.“
„Tu das nicht“, sagte Raven und griff nach ihrer Hand. „Lüg mich und die anderen nicht an, indem du behauptest, dass es dir gut geht. Ich kenne dich mittlerweile ziemlich gut und weiß, wenn du nicht die Wahrheit sagst.“
„Alles braucht seine Zeit“, fügte Yue hinzu, den Blick auf die Banshee neben Natalia gerichtet. „Sie wird wissen, wann es soweit ist, uns davon zu erzählen.“ Ihre dunklen Augen huschten zu Natalia und nahmen diesen speziellen Ausdruck an, den Natalia mittlerweile mit sehr, sehr hohem Alter assoziierte. Er rührte von mehreren Jahrhunderten Lebenserfahrung her.
Weil Natalia nicht wusste, was die darauf erwidern sollte, nickte sie lediglich. Sie war der Yuki Onna dankbar, dass sie den Druck von ihr genommen hatte. Natalia war nicht dämlich, sie wusste, dass sie eher früher oder später etwas gegen ihre Schlaflosigkeit und vor allem die verstörenden Träume unternehmen musste. Egal ob beinah unsterblich oder nicht, zu wenig Schlaf konnte zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen führen.
Raven sah noch immer unzufrieden aus, doch sie beließ es dabei und sagte stattdessen: „Raik hat bei Owen angerufen, weil er dich nicht erreichen konnte.“
Sofort war Natalia hellwach. Raik war ihr jüngerer Bruder und im Moment irgendwo im australischen Outback unterwegs. Natalia hatte dafür gesorgt, dass er immer ein Satellitentelefon bei sich trug, damit er im Notfallhilfe holen konnte. Ihr Magen zog sich zusammen.
„Was ist passiert? Steckt er in Schwierigkeiten?“
„Nein“, sagte Raven schnell und lächelte. „Er ist in einer Stadt, dessen Namen ihr ehrlich gesagt nicht aussprechen kann. Er wollte einfach nur mit dir reden.“
„In einer Stadt? Hat er WLAN?“
Raven nickte und Natalia stand auf. Wenn er Internetzugang hatte, dann konnte sie einen Videochat starten. Die Aussicht, ihren Bruder einmal wieder zu sehen und nicht nur von ihm zu lesen oder Sprachnachrichten von ihm abzuhören, machte sie munterer als ein Liter Kaffee.
„Ich richte ihm Grüße von euch aus“, verkündete Natalia und verließ das große Gemeinschaftswohnzimmer im Erdgeschoss des Haupthauses. Leises Gelächter der beiden Frauen folgte ihr, aber das kümmerte sie nicht. Sie war viel zu glücklich bei der Aussicht, Raik endlich wiederzusehen.
Ihr verrückter Bruder hatte sich vor knapp einem Jahr in den Kopf gesetzt, einen Roadtrip durch die ganze Welt zu machen. Das letzte physische Treffen mit ihm lag eine gefühlte Ewigkeit zurück. Noch vor Natalias Umzug von Oslo nach St. Ives.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend machte sich Natalia auf den Weg in ihr Zimmer, welches im zweiten Stock lag. Wie alle anderen Wohnräume des Anwesens auch war es bei ihrem Einzug schlicht ausgestattet gewesen und hatte nur darauf gewartet bezogen und individualisiert zu werden.
Natalia hatte nicht viel geändert, da sie im Gegensatz zu manch anderen hier – wie zum Beispiel Loana oder Reika – nicht so einen ausgeprägten Nestbautrieb hatte. Das einzige, was ihre Räumlichkeiten grundlegend von den anderen unterschied, war ihre eigene kleine Technikzentrale: Ein großer Eckschreibtisch, auf dem sich mehrere Laptops, externe Festplatten, diverse Module und meterweise Kabel türmten.
Owen nannte es scherzhaft ihre Hacker-Ecke.
Womit er nicht ganz Unrecht hatte, denn Natalia hatte sich über die vergangenen Jahrzehnte einen Namen in der Szene gemacht. Aktuell nahm sie keine Aufträge an. Nicht, seit sie im vergangenen Herbst auf Alii-Netzwerk gestoßen war und damit nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihres besten Freunds völlig verändert hatte. Hier ging die Arbeit nie aus, denn sie hatten noch lange nicht alle anderen Anderen gefunden.
Das Suchprogramm, dass Alii hier aufgezogen hatte, war seither Natalias Lieblingsspielzeug. Patrik hatte sie nach Owens und ihrer Ankunft erst nach Tagen an den Programmen arbeiten lassen, nicht ohne ihr mit Argusaugen über die Schulter zu blicken.
Mittlerweile hatte der einzige Mensch auf dem Anwesen und heimlicher Herr über ihre Recherchen mehr Vertrauen zu ihr, doch mit dem Suchsystem durfte sie dennoch nicht von ihrem Zimmer aus arbeiten. Die einzigen Zugänge dazu lagen im Nebengebäude, wo sie auch die physischen Unterlagen zu den Suchen nach den anderen Anderen lagerten.
Für Natalia war das in Ordnung, auch wenn sie Patrik gerne noch damit ärgerte, dass sie sich schon über Gesetze hinweggesetzt hatte und sein Verbot sie nicht wirklich aufhalten konnte. Zu sehen, wie er daraufhin die Augenbrauen zusammenzog und versuchte sie einschüchternd anzustarren, war jedes Mal zum Todlachen.
Natalia war eine Lamia, verfügte über übermenschliche Körperkraft und stammte von bluttrinkenden Barbaren ab – da brauchte es schon mehr als einen schlaksigen Historiker, um sie in die Flucht zu schlagen. Da sie Patrik aber mochte, ließ sie ihm die Vorstellung, dass sein strenger Blick sie abhielt das Netzwerk der Bibliothek auch von ihrem Zimmer aus anzuzapfen.
Lächelnd startete Natalia einen der Laptops, zog ihr Smartphone aus der Tasche und sah die verpassten Nachrichten ihres Bruders. Schnell schrieb sie ihm eine Antwort. Hoffentlich war die Internetleitung, wo auch immer er war, tatsächlich stabil genug für einen Videoanruf.
Obwohl Natalia sich nichts aus ihrem Aussehen machte, machte sie sich die Mühe ihren Pferdeschwanz zu lösen und neu zu binden. Ein relativ einfaches Verfahren, da ihr dunkelbraunes Haar auf der linken Seite zu einem Undercut geschnitten war.
Raik hatte diese Entscheidung gefeiert, ihre Mutter hatte nur mit den Augen gerollt. Da Svea Hakonsen sich jedoch schon vor dreißig Jahren damit abgefunden hatte, dass Natalia nie das typische weibliche Klischee erfüllen würde, war es bei dem Augenrollen geblieben. Mehr Ärger hatte sie wegen des großflächigen Tattoos auf ihrem Rücken bekommen.
Die Frisur gerichtet, öffnete Natalia ein neues Videochatfenster und tippte mit rasender Geschwindigkeit die Kontaktadresse ihres Bruders ein. Der Bildschirm wurde schwarz und eine Sanduhr begann sich zu drehen. Nervös starrte Natalia auf das kleine weiße Gebilde.
Eine Minute später – sie hatte schon wieder zum Handy greifen und Raik eine weitere Nachricht schreiben wollen – erwachte der Bildschirm zum Leben. Erst stark verpixelt, dann immer klarer erschien die vertraute Gestalt ihres Bruders: Dunkelblonde Haare, grüne Augen und für einen Lamia ungewöhnlich gebräunte Haut. Raiks Lächeln war so breit, dass man seine spitzen Eckzähne sehen konnte. Früher hatte Natalia ihn immer damit aufgezogen, dass er auch in menschlicher Form den Vampir nicht verstecken konnte.
„Hey du“, sagte Natalia glücklich und beugte sich näher an den Laptop. „Wie geht es dir? Haben dich die Schlangen und Spinnen Down Under schon gebissen?“
Raiks Grinsen wurde noch breiter. „Hi Natalia. Mir geht es prima, keine Schlangenbisse bisher. Ich glaube, denen schmecke ich nicht.“
„Glaube ich sofort“, lachte Natalia. Sie begannen sich über die Neuigkeiten und Erlebnisse der letzten Wochen auszutauschen, seit sie das letzte Mal Gelegenheit für ein Telefonat gehabt hatten. Sie hatten ein sehr gutes Geschwisterverhältnis zueinander.
Natalia war mit ihren sechsundvierzig Jahren sieben Jahre älter als Raik – und doch sahen sie bei keinen Tag älter als dreißig aus. Ein Geschenk ihrer besonderen Genetik, aber auch ein Handicap in der immer stärker überwachten Welt. Als es für Raik an der Zeit gewesen war sich eine neue Identität zu suchen, da sonst aufgefallen wäre, dass er nicht alterte, hatte er sich für die Weltreise entschieden.
„Also keine neuen Monster?“, fragte Raik und zog die Mundwinkel nach unten.
Natalia lachte und sagte: „Hör auf, dieser Schmollmund funktioniert vielleicht bei Mom, aber bei mir sicher nicht. Außerdem kann ich andere Andere auch nicht einfach aus dem Hut zaubern.“
„Schade“, erwiderte Raik, zuckte mit den breiten Schultern und lächelte das Lächeln, das Natalia „Du kommst aus dem Gefängnis frei“-Lächeln genannt hatte. Damit versuchte er sich schon seit seiner Pubertät entweder aus Schwierigkeiten raus oder in Frauenbetten rein zu lächeln.
„Apropos neue andere Andere“, sagte Natalia daher und grinste breit, „ich hoffe nur, dass du keine Spur aus kleinen Lamien auf deinem Weg hinterlassen hast.“
Raik verzog das Gesicht und fragte: „Hast du mit Dad geredet?“
„Letzte Woche, aber da ging es nicht um dich. Warum fragst du?“
„Weil seine Carepakete aus Eisentabletten und Kondomen bestehen.“
Natalia hielt sich an der Tischkante fest, um vor Lachen nicht vom Stuhl zu fallen. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie Eric Hakonsen dutzende Pakete mit Tabletten und Gummis um die Welt schickte und Raik jedes Mal die Augen verdrehte.
Während Natalia weiter lachte, rieb sich Raik über das Gesicht und fügte hinzu: „Ich schwöre, hätte ich nicht solche Angst vor Moms Standpauken, dann würde ich ihnen meine Adressen nicht mehr mailen.“
„Du bist fast vierzig und hast noch Schiss vor Mami?“, gluckste sie.
Raik zog eine Augenbraue nach oben und sagte nüchtern: „Sie ist auch deine, schon vergessen?“
„Stimmt.“ Natalia wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Und was machst du mit Dads Carepaketen?“
„Benutzen natürlich“, antwortete Raik grinsend. „Erst letzte Nacht, da habe ich…“
„Okay okay“, sagte Natalia schnell und hob die Hände, „mehr will ich darüber gar nicht wissen.“
„Wie du willst.“ Raik zwinkerte ihr zu, doch dann wurde sein Gesichtsausdruck ernst. „Was machen deine Schlafprobleme?“
„Noch da“, murmelte sie.
Natalia wandte den Blick ab und sah zu den Fenstern. Hinter den Scheiben verfärbte sich der Himmel bereits in abendliches Rot und Orange. Der Traumfänger, den Marleen ihr aus Marrakesch mitgebracht hatte, baumelte an einem der Pfosten des Himmelbetts. Natalia hatte es anfangs als kitschig empfunden, dass alle Zimmer hier solche Betten hatten, aber mittlerweile liebte sie es, die Vorhänge um das Bett zu ziehen.
Es half zwar genauso wenig wie der Traumfänger gegen ihre Träume, aber es gab ihr ein gutes Gefühl. Wenn sie doch nur herausfinden könnte, warum…
„Lia?“ Raiks Stimme, der Kosename aus ihrer Kindheit, weil er damals Natalia nicht hatte aussprechen können, riss sie aus ihren Überlegungen.
„Sorry.“ Sie atmete tief durch und sagte: „Wenn ich mich tagsüber hinlege, dann schlafe ich wie ein Stein. Nur nachts funktioniert es nicht.“
„Du weißt, dass das nicht ewig so weitergehen kann?“, fragte ihr Bruder und benutzte dabei unwissentlich fast dieselben Worte wie Raven. Ein Prickeln lief Natalias Rücken hinunter.
„Ja, ich weiß.“
„Deine neuen Freunde können sicher helfen. Ihr habt doch da einen ganzen Haufen freakiger Talente, einer hat sicher eine Lösung.“
Natalia fürchtete, dass es nicht nur mit einem Amulett oder einem sonst wie gearteten Zauber der magiebegabten Bewohner getan wäre, nickte aber trotzdem. Sie liebte ihren Bruder und sie standen sich nahe, aber Natalia wollte auch nicht, dass er sich zu viele Gedanken um sie machte. Nicht zumindest, wenn er nichts dagegen tun konnte.
Also begann sie, um ihn von sich abzulenken, von dem Besuch der beiden Pixie-Familien zu erzählen, die eine Woche lang auf dem Anwesen eingefallen waren. Natürlich hatten sich Blakes und Moiras Eltern sowie Moiras Schwester und deren Mann nicht nehmen lassen, allen Pflanzen auf dem Anwesen einen ordentlichen Wachstumsschub zu verpassen.
Loana, die aus noch ungeklärten Gründen stark auf Pixie-Magie reagierte, war vorübergehend zu ihrer Familie ins zwei Stunden entfernte Brixham geflüchtet. Moira machte sich deswegen immer noch Vorwürfe, obwohl die Korrigan nicht müde wurde ihr zu versichern, dass es nicht schlimm gewesen wäre.
Im Gegenzug berichtete Raik von den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit. Als sie sich schließlich verabschiedeten, war es draußen schon dunkel geworden. Mit einem gleichzeitig glücklichen und wehmütigen Gefühl in der Brust klappte Natalia den Laptop zu. Sie vermisste Raik, auch wenn sie hier in St. Ives nicht nur eine Aufgabe, sondern auch eine andere Art von Familie gefunden hatte.
Natalias Blick huschte zur Uhr und sie fluchte vor sich hin. Es war beinah Zeit zum Abendessen. Eilig verließ sie ihr Zimmer und machte sich auf den Weg ins Erdgeschoss.
Sie waren auf dem Anwesen mittlerweile so viele geworden – immerhin neunzehn Individuen, wenn Kalliopes Schwester Phoebe im Internat war – dass sie es nur noch schafften gemeinsam zu Abend zu essen. Frühstück und Mittagessen wurden in verschiedenen Konstellationen eingenommen, je nach Tagesplan der einzelnen Bewohner, aber das Abendessen war ein fester Termin. Es war ihnen allen wichtig, weswegen Natalia nicht zu spät kommen wollte. Außerdem hatte sie Hunger.
Sie mochte problemlos einen PKW stemmen können, doch das hatte seinen Preis. Ihr Körper benötigte mehr Eisen, weswegen ihre Vorfahren bei Menschen und Tieren Blut getrunken hatten. Seit sie jedoch herausgefunden hatten, was diesen ungewöhnlichen Hunger auslöste, ließ sich der Bedarf mit weit weniger auffälligen Methoden stillen: Viel rotes, rohes Fleisch und Eisentabletten.
Zudem brauchten Lamien mehr Kalorien, weswegen Natalia keine der Mahlzeiten auf dem Anwesen ausließ. Neben Owen konnte nur Marleen mit ihrem Appetit mithalten, was Natalia anfangs sehr fasziniert hatte. Die Sirene erklärte es immer damit, dass sie nicht doch noch ein Stück aus ihrem Partner herausbeißen wollte. Etwas, was auch Lír zu vermeiden versuchte.
Natalia musste gestehen, dass sie Marleen aufgrund dieser blutrünstigen Neigung noch mehr mochte als ohnehin schon.
Ein warmer, herzhafter Geruch umfing Natalia, als sie die große Küche betrat. Es war ein gemütlicher Raum, mit hellem Naturstein ausgelegt. Die Einrichtung aus dunklem Eichenholz, mit der Kücheninsel und den beiden Gasherden, war perfekt dafür geeignet eine große Anzahl an Mägen zu füllen.
Getrennt durch einen großen Kachelofen, der im Moment kalt war, befand sich das Esszimmer mit seinen bodentiefen Fenstern in Richtung Küchengarten. Alles wirkte fast so, als wäre es aus einem Rosamunde-Pilcher-Film entsprungen. Inklusive des restlichen Anwesens und dem weitläufigen Areal darum.
„Hallo zusammen“, sagte sie zu den dreien, die sich an den breiten Arbeitsflächen zu schaffen machten. Marleen, Damian und Dastan waren offenbar an diesem Tag eingeteilt. Das Zufallslos entschied über die Konstellationen der Köche, die jeden Tag wechselte, damit es mit der Arbeitsverteilung gerecht zuging. Was allerdings auch dazu führte, dass es an manchen Tagen interessanter schmeckte als an anderen.
„Kann ich helfen?“, fragte Natalia und trat an die Kücheninseln heran.
Dastan, neben Samir und Yue einer der neusten Bewohner auf dem Anwesen, drehte sich mit einem Lächeln zu ihr um. Ein äußerst charmantes Lächeln, das zusammen mit seinem Aussehen – großgewachsen, breite Schultern, bronzefarbenen Augen und einer Frisur, die immer so aussah, als wäre er gerade aus einem zerwühlten Bett gestiegen – durchaus ansehnlich war.
Dastan war eindeutig ein Aufreißer-Typ. Dumm nur für ihn, dass bis auf Natalia, Loana und Reika bereits alle Frauen auf dem Anwesen vergeben waren. Natalia und Loana waren sich einig darüber, dass der Ifrit nett anzusehen war, aber nicht ihrem Typ entsprach.
Und Reika würde ihn eher erdrosseln und im Wald verscharren – was auf Gegenseitigkeit beruhte, denn seit ihrem ersten Treffen benahmen sich die beiden wie Hund und Katz. Was daran liegen mochte, dass Reika Dastan unfreiwillig zu Boden gerissen hatte, als sie sich damals in Marrakesch materialisiert hatte.
Ein unglücklicher Zufall, der zu diesem wohl nie enden wollenden Gezänk zwischen ihnen geführt hatte. Natalia fand es unterhaltsam, wie ungefähr die Hälfte der anderen Anderen auch. Die andere Hälfe startete immer wieder Versuche, die Kitsune und den Ifrit miteinander zu versöhnen. Bisher ohne Erfolg.
„Hallo Schönheit“, sagte Dastan mit weichem Akzent. „Deine Anwesenheit allein macht es leichter zu arbeiten.“
„Schleimer“, beschied Marleen ihm und rollte mit den Augen, bevor sie mit einem Grinsen zu Natalia sah und sagte: „Der Tisch muss noch gedeckt werden.“
„Okay“, erwiderte Natalia grinsend. Sie schnappte sich einen Stapelt Teller und begann sie auf dem großen Esstisch im Nebenraum zu verteilen. Wenige Minuten später gingen ihr Kalliope und Patrik zur Hand. Sie waren gerade fertig und Damian brachte die erste Platte mit Essen herein, als auch die restlichen Bewohner eintrafen.
Das Gelände war so weitläufig, dass Natalia jedes Mal wieder überrascht war, wie viele hier eigentlich lebten. Denn wenn man es darauf anlegte, dann konnte man gut und gerne den ganzen Tag allein sein und niemandem begegnen. Etwas, was Natalia selbst gelegentlich tat. Sie war noch nie der gesellige Typ gewesen. Andererseits hatte sie - außerhalb ihrer Familie – noch nie eine Gruppe gekannt, die wusste, dass sie keine normale Frau war.
Sie alle waren hier Monster, Sonderlinge in der Welt der Menschen. Auf dem Anwesen jedoch war der einzige Mensch unter ihnen ein Sonderlich. Wobei irgendwie auch nicht, dachte Natalia mit einem Grinsen. Sie beobachtete Patrik, der sich angeregt mit Nikolai und Shari unterhielt. Er war vielleicht noch verrückter als sie alle zusammen.
Denn wer tat sich diesen Zirkus schon freiwillig an?
Wohl nur so verrückte, eigenwillige und völlig durchgeknallte Persönlichkeiten. Solche, die in den Augen der restlichen Weltbevölkerung eigentlich nicht existierten, die nicht normal waren. Solche mit Fähigkeiten jenseits der Vorstellungskraft.
Solche wie ich, dachte Natalia und lächelte vor sich hin. Alii gefunden zu haben war das Beste, was ihr in den vergangenen zwanzig Jahren widerfahren war. Sie hatte Freunde gefunden, die sie auch in einhundert Jahren begleiten würden.
Freunde, denen sie bald anvertrauen musste, dass mit ihr etwas nicht stimmte.
Das Essen blieb Natalia bei diesem Gedanken beinah im Hals stecken.