Leseprobe "Sirenengesang zu Weihnachten"

Buchcoverbild "Sirenengesang zu Weihnachten", einer Kurzgeschichte aus der Romantik-Fantasy-Reihe "Die anderen Anderen"

Kapitel 1

 

„Das muss höher Schätzchen. Höher hab ich gesagt. Verdammt, was ist denn an höher nicht zu verstehen?!“

„Mom, beruhig dich“, murmelte Nadja und hob die Lichterkette wie befohlen einige Zentimeter an.

Aber das war wohl auch nicht gut genug, denn unten hörte sie ihre Mutter schnauben, dicht gefolgt von einem zickigen: „Ich kann mich nicht beruhigen, wenn du nicht auf mich hörst.“

„Dann mach es doch selbst!“

„Nein, ich traue dieser Leiter nicht.“

Nadja ließ die Arme sinken, die ihr ohnehin schon wehtaten, und sah zu Anna hinunter. „Ach, aber um deine Erstgeborene machst du dir keine Sorgen?“

„Ich habe ja noch drei andere Töchter.“ Ein unverschämtes Grinsen auf dem Gesicht der anderen Frau, was Nadjas Geduldsfaden reißen ließ. Sie legte die Lichterkette über die letzte Sprosse der Leiter und stieg hinunter.

„Das reicht! Such dir einen anderen Idioten, den du herumkommandieren kannst.“

„Was ist denn hier los?“, fragte Sofia, die vom Flur in das große Wohnzimmer kam. Sie hatte ein Handtuch über der Schulter und Mehl überzog sie wie eine feine Schicht. Ihr weißblondes Haar wirkte dadurch noch heller.

Nadja verschränkte die Arme unter der Brust und starrte ihre Mutter missmutig an, ehe sie ihrer Großmutter erklärte: „Anna dreht wieder mal völlig am Rad und ich muss es ausbaden. Sag doch mal was Sofia!“

„Anna?“, fragte Sofia lang gezogen und sah ihre Tochter mit hochgezogener Augenbraue an. Man mochte sie rein äußerlich nicht älter als fünfunddreißig schätzen, doch in Wahrheit war sie über achtzig und die momentane Matriarchin der Cromwells in New Port.

„Was?“, empörte sich Anna und hob beide Hände, als müsse sie sich verteidigen. „Ich will das Haus für Weihnachten dekorieren und es soll perfekt aussehen. Was ist denn daran schlimm?“

Nadja schnaubte: „Schlimm ist, dass du dich dabei wie Attila der Hunnenkönig aufführst!“

„Gar nicht“, verteidigte sich ihre Mutter, doch in ihre blauen Augen traten erste Zweifel.

„Vielleicht sollten wir den Mädchen das Dekorieren überlassen und wir beide kümmern uns um das Essen?“, schlug Sofia vor. „Ich brauche Hilfe bei der Dekoration der Cookies.“

„Na schön“, brummte Anna. Sie sah zu Nadja und seufzte: „Es tut mir leid Schätzchen.“ Wenige Augenblicke später fand sich Nadja in einer typischen Cromwell-Umarmung wieder: Fest und mit so viel Körperkontakt wie möglich.

Nadja zögerte nur einen Sekundenbruchteil, ehe sie die Umarmung erwiderte. „Schon okay.“

„Es ist das erste Weihnachten ohne Marleen“, murmelte Anna so leise, dass nur Nadja es hören konnte.

Sehnsucht zog ihr Herz zusammen und sie wusste, ihre Mutter fühlte es sich ebenso. Sie vermissten Marleen jeden einzelnen Tag und freuten sich sehr über die regelmäßigen Telefonate, Videochats und die Kleinigkeiten, die immer wieder zwischen England und Amerika hin und her geschickt wurden. Doch die Feiertage ohne Marleen… es wäre einfach nicht dasselbe.

„Ich hab dich lieb“, sagte Nadja und küsste Anna auf die Wange.

„Ich dich auch Schätzchen.“

„Da hier wieder Frieden herrscht“, mischte sich Sofia ein, „wo stecken denn die anderen beiden?“

Nadja lehnte sich ein wenig von Anna zurück und zuckte mit den Schultern. „Ich habe sie seit dem Frühstück nicht mehr gesehen. Ich dachte, du hättest die Aufgaben heute Morgen verteilt?“

„Habe ich auch“, sagte Sofia. Sie zog die hellen Augenbrauen zusammen und schien zu überlegen, ehe sie grinste. „Ich habe sie zum Einkaufen geschickt.“

„Recht das Essen nicht?“, fragte Anna, woraufhin Sofia lachte.

„Das schon, aber unser Alkoholvorrat ist ein wenig löchrig.“

Alle drei Frauen grinsten breit, so dass man ihre weißen Zähne sehen konnte. Viele Zähne.

Marleen hätte sich sicher darüber aufgeregt, dachte Nadja und grinste noch ein bisschen breiter. Sie sagte immer, dass sie mit diesem Lächeln aussahen wie verdammte Haifische. Der Vergleich hinkte nur ein ganz kleines bisschen.

„Sie müssten demnächst wieder auftauchen“, sagte Sofia. „Nadja kann ja bis dahin zu uns in die Küche kommen. Du hast von uns allen sowieso die ruhigste Hand.“

„Okay.“ Gemeinsam verließen sie das Chaos, das momentan im Wohnzimmer herrschte – insgesamt sieben halbausgepackte Kisten mit Dekoration – und gingen in die gemütliche Küche. Sie war fast so groß wie das Wohnzimmer, mit einem großen Esstisch und vielen Arbeitsflächen. Diese waren im Augenblick übersäht mit Schüsseln, Zutaten, Backutensilien und allem möglichen dazwischen.

Nadja zog ihren Pferdeschwanz nach und ging sich die Hände waschen. „Okay, wo sind die Kekse?“

„Auf der Anrichte links von dir. Den Zuckerguss findest du im Vorratsschrank.“

„Und dieses Jahr keine versauten Sprüche!“, forderte Anna grinsend. „Ich will nicht nochmal erleben, wie Sara der Kakao durch die Nase läuft, weil sie so heftig lachen musst.“

„Aber das war lustig“, verteidigte sich Nadja und kicherte. Die Erinnerung war mit eine ihrer liebsten, auch wenn ihre jüngste Schwester sie deswegen sicher schlagen würde.

„Wisst ihr noch, als wir von Thea diese spezielle Plätzchenform geschickt bekommen haben?“, fragte Sofia. Ihre grünen Augen funkelten amüsiert.

„Aber natürlich“, antwortete Anna lachend. „Wo ist sie?“

Sofias grinsen wurde noch ein wenig breiter. „Ich habe sie nach England geschickt.“

Nadja prustete los, während Anna vor sich hin kicherte und sagte: „Oh schön. Ich würde zu gerne die Gesichter der anderen sehen, wenn Marleen Penis-Plätzchen auf den Tisch stellt.“

„Wie ich sie kenne wird sie heimlich Fotos machen.“

„Hoffentlich!“, erwiderte Nadja amüsiert.

Die drei Frauen begannen zu arbeiten, während sie sich weiter unterhielten und lachten. Die Atmosphäre in der Küche war warm und heimelig, so wie bei vielen Familien in der Adventszeit, und doch waren sie ganz und gar nicht wie andere Familien. Es mochte auf den ersten Blick alles so normal wirken, doch hinter dieser Fassade aus Normalität verbarg sich etwas ganz und gar Spezielles.

Denn die Cromwells aus New Port bereiteten sich nicht nur auf ein Weihnachten im kleinen Kreis der Familie vor, die auch sonst hier lebte. Nein, sie erwarteten Besuch von vier weiteren Mitgliedern der Familie. Und eine davon hatte vor einiger Zeit ihren einhundertzehnten Geburtstag gefeiert.

 

Und sah nicht älter aus als Ende dreißig.