Das kleine Radiogerät in der winzigen Küche war ihre einzige echte Verbindung zu der Welt, die jenseits des Schnees, der Wälder und der Wildnis lag. Manchmal, an guten Tagen mit klarem Himmel, konnte sie mit etwas Geschick Signale von tausenden Meilen Entfernung aufschnappen.
An Tagen wie diesem jedoch, wo der Wintersturm Schnee und Eis um ihre Hütte peitschen ließ, als wolle er mit den harten Kristallen das Holz fortschmirgeln, da konnte sie gerade einmal den örtlichen Sender empfangen.
Krächzend und kaum verständlich durch das statische Rauschen, quälte sich die Stimme des Nachrichtensprechers durch den Äther.
„Die Unwetterwarnung der Behörden bleibt bestehen. Bitte verlassen Sie nicht ihre Häuser, bis sich der Sturm gelegt hat.“
Yue lächelte sanft. Die Menschen mussten immer so übertreiben. Sie selbst hatte schon ganz andere Stürme gesehen – solche, die es schafften ganze Städte unter sich zu begraben, dass nur noch eine weiße Ebene übrigblieb. Stürme mit so viel Eis und Kälte, dass Tiere an Ort und Stelle eingefroren waren, wie groteske Eisskulpturen.
Sie lauschte weiter dem Radio, mittlerweile hatte leise Musik den Sprecher abgelöst, während sie sich einen Tee zubereitete und an den kleinen Tisch in ihrer ebenso kleinen Küche setzte. Es gab nur einen Stuhl. Ebenso wie sie nur diese eine Tasse in ihren Händen besaß, einen Teller im Schrank und einen Bestecksatz in der Schublade.
Mehr benötigte Yue nicht.
Ein Knirschen drang von dem Lautsprecher des kleinen Elektrogeräts und ließ sie zusammenzucken. Eine hektische Stimme erfüllte ihre bescheidene Hütte: „Eine dringende Suchmeldung: Drei Wanderer werden vermisst. Sie sind in der Nähe des North Face Hiking Trails das letzte Mal gesehen worden, doch laut dem Betreiber der Liftstation sind sie bisher nicht zurückgekehrt. Alle drei Tragen türkisfarbene Skijacken und bunte Mützen. Sollten Sie sie gesehen haben oder sonstige Informationen über den Verbleib der Wanderer haben, dann melden Sie sich bitte unter der Nummer…“
Dem Rest der Nachricht lauschte sie gar nicht mehr. Viel zu sehr beschäftigte sich ihr Verstand mit der Brisanz, der Tragik dieser Durchsage. Der Sturm draußen mochte nicht verheerend sein, doch allemal ausreichen um diesen drei verlorenen Seelen das Leben zu nehmen. Die Natur verzieh keine Fehler, sie bestrafte sie drakonisch.
„Und nun?“, fragte Yue in die Stille ihres Heims hinein, neigte den Kopf als würde sie eine Antwort erhalten. Doch was sie hörte waren keine Worte, sondern nur wieder das Ächzen der Balken und das Prasseln des Schnees gegen die Fensterläden. Heulend strich der Sturm um die Ecken.
Für sie waren diese Geräusche so aufschlussreich wie kunstvoll ausgeschmückte Sätze.
„Hm… so ist das.“
Sie nickte, trank ihren Tee und spülte die Tasse aus. Ohne Eile griff sie nach ihrem altmodischen Fellparka, stieg in ihre dicken Stiefel und schlang sich einen Schal um den Hals. Sie vergewisserte sich, dass sie alle Lampen gelöscht hatte, ehe sie das Haus verließ.
Sofort griff der Schneesturm mit eisigen Fingern nach ihr, zerrte an dem langen Zopf, zu dem sie ihr Haar geflochten hatte, und ließ ihn wie eine Peitsche um ihren Körper tanzen.
„Na na“, tadelte sie mit einem Lächeln und hob eine Hand. Yue trug keine Handschuhe und keine Mütze, das brauchte sie nicht. Nicht einmal den Mantel und die Schuhe hätte sie benötigt, doch sie hatte schon vor langer, langer, langer Zeit gelernt, als es noch nicht so moderne Kleidung gegeben hatte sondern nur grobe Tierfelle und geflochtener Schilf, dass das so von den Menschen erwartet wurde.
Normale Kreaturen erfroren bei diesen Temperaturen.
Yue nicht… aber das durfte sie niemanden wissen lassen.
Der Sturm ließ auf ihr Handzeichen von ihrem Haar ab, rieb nur noch sanft gegen ihre Beine wie eine Katze. Die Schneeflocken auf ihren Wangen fühlten sich an wie sanfte Küsse, was sie zum Lächeln brachte. Die Freude blieb aber nicht, denn sie musste sich beeilen. Jede Minute, die sie vor ihrer Hütte stand und sich ablenken ließ könnte den Tod für diese Menschen bedeuten.
Sich hatte es einmal jemandem versprochen, dass sie nichts unversucht lassen würde zu helfen, wenn sie denn die Gelegenheit dazu hatte. Wenn sie sich sputete und der Sturm nicht den Weg mit umgestürzten Bäumen versperrt hatte, dann würde sie innerhalb einer Stunde ihr Ziel erreicht haben. Vielleicht auch ein bisschen schneller.
Entschlossen ging sie los. Ihre Hütte stand ganz am Rand der Stadt, so dass sie nach wenigen Schritten bereits auf dem Waldweg war, der in das Wandergebiet führte. Zwischen den Bäumen war der Wind weniger heftig, der stete Schneefall blieb jedoch. Er legte sich wie eine Schicht aus weißem Puder über sie, hüllte sie ein.
Noch nutzte sie nichts von ihrer Macht, so dass sie tiefe Abdrücke mit ihren Stiefeln im Schnee hinterließ, während sie Meile um Meile zurücklegte. Yue kannte dieses Gebiet in- und auswendig, wusste genau wohin sie sich wenden musste um an ihr Ziel zu gelangen.
Ihr Atem bildete große weiße Wolken vor ihrem Gesicht, als sie schließlich an der markanten Felsformation ankam, die den Trail kennzeichnete. Sie sah sich um – um sie herum nur Bäume, hohe Schneewehen und kleine Windhosen aus Eiskristallen. Selbst die Tiere hatten sich verkrochen.
Gut so, dann würde sie auch niemand sehen.
Ein tiefer Atemzug, ein zweiter und sie löste die Ketten um das Uralte in ihrer Seele. Die Macht, die sie die meiste Zeit ihres Lebens gut versteckt hielt, damit sie unbemerkt unter den Menschen leben konnte. Damit sie nicht so endete wie ihre Zwillingsschwester.
Nach wenigen Herzschlägen berührte sie nicht länger den Boden. Ihr Haar hatte sich selbst aus dem Zopf befreit und umwogte ihren Körper. Der Schneesturm stockte, wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu wie ein guterzogener Hund.
„Guten Abend“, sagte Yue mit sanfter Stimme. „Würdest du mir bitte zeigen wo die drei verlorenen Seelen sind?“
Die Antwort kam sofort: Eine Windböe drückte in ihren Rücken, schob sie vorwärts. Schnee tanzte vor ihr und lockte sie nach Nordosten. Bereitwillig eilte sie vorwärts, hinterließ keinerlei Abdrücke mehr im Schnee. Auf diese Art kam sie viel schneller vorwärts, da ihr nichts einen Widerstand entgegensetzte.
Die Zeit war unbedeutend, wenn sie ihr wahres Gesicht zeigte, und so konnte sie nicht einschätzen wie lange es gedauert hatte bis sie an einen großen Felsen kam, in dessen Windschatten sich ein undefinierbarer Farbkleks drückte: Vornehmlich türkisfarben waren es ohne Zweifel die drei Wanderer.
Ob sie wohl schon tot waren?
Yue hob die Hände und der Schneefall um sie herum hörte schlagartig auf. Um nichts zu riskieren ließ sie sich wieder auf die Füße sinken, zog ihre Macht so weit in sich zurück bis man es auch nicht mehr in ihren Augen sehen konnte – diese wurden von dem gespenstischen Reinweiß wieder menschlich-dunkelbraun.
Nach wenigen Schritten war sie bei den drei Wanderern angekommen, streckte eine Hand aus und schob sie dem ersten in den Nacken. Er fühlte sich kühl, aber nicht totenkalt an… und sie konnte einen Puls spüren. Doch das wichtigste war, dass er zusammenzuckte und den Kopf hob.
„Wer… wer sind Sie?“, kam es rau von ihm.
„Ich bin hier um Sie zu retten.“
Nun hoben auch seine Kameraden die Köpfe. Ihre Augen waren ein wenig trüb, doch sie konnten sie ohne Probleme fokussieren. Ein gutes Zeichen.
„Stehen Sie auf, wir gehen zur Seilbahnstation.“
„Wir haben uns verlaufen“, murmelte einer von ihnen. Er hatte einen dunklen Vollbart.
„Das weiß ich“, erwiderte sie mit einem Lächeln. „Ich kenne aber den Weg. Vertrauen Sie mir.“
„Wie ist das möglich?“, wollte der mit der schwarzen Mütze wissen.
Statt ihm zu antworten sagte Yue: „Wir müssen uns beeilen, sie stehen alle kurz vor einer Unterkühlung.“
Nun kam endlich Bewegung in die kleine Gruppe, sie schulterten ihre Rucksäcke, auf die sie sich gekauert hatten, und sahen sie erwartungsvoll an.
„Bitte bleiben sie dicht hinter mir.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging los, das typische Knirschen der Schritte der Menschen hinter sich.
Der Weg gestaltete sich mühsamer als gedacht. Der Schneesturm war offenbar nicht glücklich damit, dass sie ihm seine Opfer entriss, denn er stemmte sich mit aller Gewalt gegen sie und die drei erschöpften Männer. Sie musste immer mehr und mehr von ihrer Macht nutzen, um die eisfreie Glocke um sie aufrecht zu erhalten und damit zu gewährleisten, dass die Wanderer nicht noch mehr auskühlten und noch vor ihrem Ziel zusammenbrachen. Immer wieder warf sie einen kurzen Blick nach hinten, um zu kontrollieren, dass die drei ihr noch folgten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen endlich die Lichter der Station in Sicht, das dunkle Gebäude lugte zwischen den Bäumen hervor und sie schickte ein Dankgebet an die Geister, dass sie es geschafft hatten. Sie selbst konnte sich kaum noch vorwärtsbewegen.
„Da vorne ist es!“, rief einer der Männer, neues Leben in der Stimme. Auch in seine Freunde kam mehr Bewegung, sie überholten sie sogar und gingen mit ausgreifenden Schritten auf das hellerleuchtete Gebäude zu.
Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, sie blieb am Waldrand stehen. Endlich konnte sie die mühsam errungene Kontrolle über den Schnee und das Eis fahren lassen. Der Quell ihrer Macht in ihrem Inneren war so gut wie versiegt, war so leer wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Tatsächlich fühlte sie sich so schwach… so schwindelig…
Yue musste sich abwenden um zurück zu ihrer Hütte zu gehen, musste verschwinden wie sie es immer tat. Aber es kam ganz anders. Die Welt um sie herum begann sich zu drehen und sie brach zusammen, nur wenige Meter vor der Eingangstür der Station. Das letzte, was sie wahrnahm, war der kalte Kuss des Schnees auf ihrer Wange und die aufgeregten Stimmen der Wanderer.
„Das ist unmöglich!“
„Sehen Sie sich die Werte an, das Gerät lügt nicht.“
„Aber… aber wie kann das sein?“
„Keine Ahnung. Vielleicht hatte sich der Sanitäter an der Station geirrt.“
„Nein, nicht Matt. Ich kenne ihn persönlich, er macht bei sowas keine Fehler. Und er hat oft genug Kältetote gesehen um sie zu erkennen.“
„Die Vitalwerte der Frau sind aber unauffällig, ihr geht es sogar körperlich hervorragend!“
Ein Läuten erklang, ein unangenehmer und durchdringender Laut.
„Oh verdammt, der nächste Notfall.“
Schnelle Schritte und dann war Stille um sie herum. Nur entfernt waren noch Stimmen und das leise, gleichmäßige Piepsen von Geräten zu hören.
Wo war sie nur?
Es war warm um sie herum, Yue lag auf einer weichen Unterlage und auf ihr befand sich ein angenehmes Gewicht. Ein sauberer Geruch lang in der Luft. Träge öffnete sie die Augen, sah eine weiße Decke über sich. Der ganze Raum, das erkannte sie als sie sich umsah, war in sterilem Weiß gehalten.
Oh, verdammt.
Sie war in einem Krankenhauszimmer.
Nun ergab auch die eigenartige Unterhaltung des Mannes und der Frau, die eben noch an ihrem Bett gestanden haben musste, einen Sinn. Sie war wohl von der Anstrengung ohnmächtig geworden und man hatte sie hierher gebracht. Yue legte sich eine Hand auf die Stirn und verfluchte sich und das Schicksal.
Nun, es half ja nichts. Eilig setzte sie sich auf, sah sich um und entdeckte auf einem Stuhl neben dem Bett ihre Kleidung. Sie streifte sich das dünne Hemd ab, das man ihr angezogen hatte, und schlüpfte in ihre Hose, den Pullover und den Parka. Aber… wo waren denn ihre Schuhe geblieben?
Suchend sah sie sich im Zimmer um, doch von den Stiefeln war nichts zu sehen. Gut, dann musste sie eben ohne nach Hause gehen. Es machte ihr nichts aus, schließlich würde sie keine Erfrierungen davontragen, doch es ärgerte sie. Nun musste sie sich neue besorgen.
Neuer Tumult bildete sich vor ihrem Zimmer, hektische Schritte und Stimmen, ehe ein ganzer Schwarm an Menschen vor der Tür vorbeieilte. Mit klopfendem Herzen wartete sie, dass jemand sie bemerken würde, doch das geschah nicht. Als sie hinaus auf den Gang trat, der grell erleuchtet war, war niemand mehr zu sehen – und sie nutzte ihre Chance.
Mit schnellen Schritten, die kein Geräusch verursachten, ging Yue den Flur hinunter, schlüpfte durch eine Tür mit der Aufschrift ‚Treppenhaus – Notausgang‘ und stieg die Stufen hinunter. Kurz darauf erreichte sie eine weitere Tür, drückte sie auf und befand sich auf einem kleinen, dunklen Hinterhof. Unberührt lag der Schnee hier, kein neuer rieselte vom nachtschwarzen Himmel.
Sie fühlte sich nicht mehr so erschöpft wie vor ihrer ungeplanten Bewusstlosigkeit, doch war sie noch lange nicht wieder in der Lage ohne Abdrücke über der weißen Decke zu schweben.
Egal, dachte sie, zog den Reißverschluss ihres Parkas hoch und trat mit bloßen Füßen hinaus in den Schnee. Yue verließ das Krankenhaus, auf ihren Lippen eine alte Melodie, die ihr Herz gleichzeitig klingen und weinen ließ.
Von ihr blieb nur eine schmale Spur aus perfekten Fußabdrücken zurück, die hinaus in die stille Nacht verschwanden.