Das große Wohnzimmer im Haus von Loanas Urgroßmutter war erfüllt von dem Stimmen aller Lacroix-Frauen. Verteilt auf den Sofas, den Sesseln und sogar auf dem Boden saßen die dreizehn Korriganen und unterhielten sich bei Tee und Gebäck.
Es hätte so eine friedliche, ja schon einträchtige Szene sein können. Dass dem nicht so war, sprach zwar niemand aus, doch jede von ihnen wusste es. Vor allem, da Nikas Schwangerschaft mittlerweile zu sehen war und jede von ihnen daran erinnerte, was genau das für sie bedeutete.
Aber um dieses Drama ging es bei diesen Treffen nicht. Sie wollten alle viel Zeit miteinander verbringen, glücklich und ohne darüber zu jammern, was sie nicht ändern konnten. Also griff Loana nach einem weiteren von Astrids berühmten Mandelkeksen und begann sich mit ihrer Großtante Claire über eine Ausstellung zu unterhalten, die im nächsten Monat in Plymouth eröffnet werden sollte.
„Was gibt es Neues auf dem Anwesen?“, fragte Tialda in eine der seltenen Gesprächspausen hinein. Sie sah Loana mit einem neugierigen Funkeln in den dunkelblauen Augen an. Sie wirkte verschmitzt und jung, keinesfalls wie eine einhundertelfjährige, zweifache Großmutter.
„Irgendwelche neuen Monster?“, klinkte sich Fabienne ein und Caroline fragte: „Oder hat sich dieser Typ von der Organisation nochmal blicken lassen?“
Yvonne setzte sich aufrechter hin und wollte wissen: „Wie hieß der noch gleich?“
„Jordan“, antwortete Danielle, die neben Loana saß und hatte einen Teller mit Keksen auf dem Schoß.
Imogen schüttelte den Kopf und konterte: „Nein, Jeremy.“
„War es nicht so ein ganz seltsamer Name?“, sinnierte Astrid, wobei sie den Kopf so zur Seite geneigt hatte, dass ihr das rotblonde Haar ihr in die Augen fiel.
„Aber definitiv mit einem J“, beharrte ihre Tante Pheline.
Bevor die Frauen um sie herum weiter spekulieren konnten, räusperte sich Loana und sagte laut: „Jaidyn ist sein Name und nein, weder er noch sonst jemand dieser Leute ist bei uns aufgetaucht.“
„Gott sei Dank“, murmelte Elodie und sprach damit genau das aus, was Loana und alle anderen Mitglieder von Alii auch dachten. Ob sie nun auf dem Anwesen lebten oder nicht. Die Nachricht, dass zumindest dieses eine Mitglieder der geheimnisvollen Organisation wusste, wo sich die Zentrale ihrer übernatürlichen Gemeinschaft befand, hatte in ihrem weitverzweigten Netzwerk eingeschlagen wie eine Bombe. Noch Wochen, nachdem dieser Jaidyn an ihrer Barriere aufgetaucht war, hatten sie viele Telefonate und Videoanrufe mit besorgten Mitgliedern geführt.
Die Sorgen waren mehr als begründet, denn die Organisation war für mehr Tod und Leid unter den anderen Anderen verantwortlich, als wohl die gesamte Menschheit zusammen. Dabei waren auch diese Leute keine Menschen, aber gehörten auch nicht zu den sechzehn magischen Wesen, die es laut dem ‚Buch über die Fabelwesen‘ gab.
Die namenlose Gruppierung benutzte Zwang, Manipulation und Drohungen, um die anderen Anderen dazu zu bringen, sich vor der Menschheit zu verbergen. Diejenigen, die nicht spurten, wurden hart bestraft. Mehrere von Loanas Freunden waren direkt oder indirekt von ihnen bedroht und auch verletzt worden.
Das neuste Opfer war wohl Alessio Tremante, der gezwungen gewesen war, seine Fähigkeiten als Mahr einzusetzen, um andere Nichtmenschliche für die Organisation aufzuspüren. Als er sich geweigert hatte, ihnen auf diese Weise weiter zu dienen, hatten sie ihm die Fähigkeit zu träumen genommen. Eigentlich sein Todesurteil, wenn da nicht Natalia gewesen wäre, die mit ihrer eigenen Traumwandlerfähigkeit in der Lage war, den Mahr mit der Energie zu versorgen, die er für sein Überleben benötigte.
All dieses Leid und das aus einem Grund, den niemand von ihnen begreifen konnte. Sie hatten sich tagelang den Kopf darüber zerbrochen, warum diese Organisation nicht einfach mit den anderen Anderen zusammenarbeitete.
Dieser Jaidyn hatte angedeutet, dass es einen übergeordneten Rat gab, der dieses teils brutale Vorgehen angeordnet hatte – und dass er der Meinung war, dass es auch andere Wege geben musste. Dass er bereit war, diese auch zu beschreiten, hatte er im vergangenen Jahr bei der Befreiung von Raven bereits bewiesen.
„Es ist alles sehr kompliziert“, murmelte Loana vor sich hin, den Blick in ihre halbleere Teetasse gerichtet. Die Atmosphäre im Raum war drückend. „Wir versuchen weiterhin, so viele andere Andere wie möglich zu finden, damit wir gegenseitig auf uns aufpassen können.“
Zustimmendes Gemurmel von den anwesenden Frauen. Sie wandten sich anderen Themen zu und Loana nippte an ihrem Tee. Kurz darauf fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter und sah zu Imogen auf. Die Matriarchin der Familie schenkte ihr ein Lächeln, das nicht ganz ihre rauchblauen Augen erreichte. Augen, die auch Loana jeden Tag aus dem Spiegel entgegensahen. Mit dem Unterschied, dass im Blick der ältesten Korrigan eine Weisheit und Erfahrung lag, die Loana noch nicht besaß.
„An meiner Vision hat sich nichts geändert“, sagte Imogen.
„Welche Vision?“
Nun erschien das Lächeln doch noch im Blick des Familienoberhauptes, als sie sagte: „Die, dass du bei Alii dein Glück finden wirst.“
„Bist du dir sicher?“, fragte Loana. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihre Skepsis zu verbergen. Sie erinnerte sich noch gut, dass ihre Cousinen Danielle und Amelie ihr diese Prophezeiung übermittelt hatten. Es war kurz vor dem Tag gewesen, als sie Marleen und Lír kennengelernt hatte. Also in persona, denn in ihren eigenen Visionen war Loana den beiden bereits begegnet.
„Absolut“, beharrte Imogen.
„Aber wie dieses Glück aussehen wird, das weißt du nicht? Oder willst du es mir nur nicht verraten?“
Ihre Urgroßmutter zuckte mit den Schultern, noch immer lächelnd. „Ein bisschen von beidem vielleicht, wer weiß.“
Loana seufzte und schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, der ältesten Korrigan ein Geheimnis entlocken zu wollen. Normalerweise konnte Loana diese Eigenheit akzeptieren, schließlich war sie damit aufgewachsen, aber an diesem Tag ertappte sie sich dabei, dass sie nachbohren wollte.
Denn obwohl sie fest an Magie glaubte, selbst welche besaß und wusste, dass es noch so viel mehr zwischen Himmel und Erde gab, wusste sie doch nicht, wie Imogens Vorhersage in Erfüllung gehen konnte. Nicht mit dem, was Loana und ihrer Familie in naher Zukunft zustoßen würde.
Zwei Stunden später erfüllte ein Läuten das Haus, welches alle Lacroix-Frauen regelrecht erstarren ließ.
„Noch dreißig Minuten bis die Dämmerung anbricht“, sagte Yvonne in die Stille nach dem Läuten hinein. Ihre dunklen Augen huschten über alle Anwesenden. „Wir sollten uns auf den Heimweg machen.“
Als hätte man einen Schalter umgelegt, erhoben sich alle von ihren Plätzen, begannen aufzuräumen und sich zum Aufbruch fertig zu machen. Es lag eine gewisse Eile in ihren Bewegungen, die selbst die vier Korriganen teilten, die sich nicht vor der hereinbrechenden Nacht fürchten mussten.
Wenige Minuten später begannen sie sich zu verabschieden. Imogen, die wie immer im Zentrum der Familie stand, warf jeder ein Lächeln zu und sagte: „Wir sehen uns nächste Woche, zur selben Zeit.“
„Adieu Grand-Mére“, antwortete Loana und ließ sich ein letztes Mal von Imogen umarmen. Obwohl sie genaugenommen ihre Urgroßmutter war, redeten alle jüngeren Lacroix-Generationen sie mit diesem Kosenamen an. Tialda, die eigentlich ihre Großmutter war, wurde von Loana Mémé genannt.
„Fahr vorsichtig“, wies Imogen sie an. Eine nach der anderen verließ das Haus, ging zu ihrem Fahrzeug oder zu Fuß nach Hause. Der Himmel hatte sich bereits orange und rot verfärbt, die Dämmerung war eingetreten.
Loana wollte gerade in ihr Auto einsteigen, als Elodie an sie herantrat. Die Augen ihrer Mutter musterten sie eindringlich und Loana ahnte schon, dass gleich ein für sie wahrscheinlich unangenehmes Gespräch folgen würde.
Und tatsächlich fragte ihre Mutter: „Erzählst du es mir freiwillig?“
„Maman“, murrte Loana und verdrehte die Augen. Es war mitunter grauenvoll, eine Mutter mit hellseherischen Fähigkeiten zu besitzen. Schon als Kind und vor allem als Jugendliche hatte Loana nichts vor ihr geheim halten können.
Elodie lächelte und griff nach ihren Händen, ehe sie sagte: „Es bedrückt dich, was auch immer es ist. Ich wollte nur nicht vor den anderen fragen.“
Loana wusste, dass sie ihre Mutter ganz leicht abspeisen konnte. Sie könnte sagen, dass sie sich Sorgen um Nika und um alle anderen Familienmitglieder machte. Damit würde sie nicht einmal lügen. Dennoch entschied sich Loana, ehrlich zu sein.
„Ich habe heute zwei der beschrifteten Schnecken gesehen.“
„So ein albernes Orakel“, erwiderte Elodie amüsiert.
„Das denke ich auch immer, aber trotzdem hat es bisher immer recht gehabt“, antwortete Loana und sah auf ihre miteinander verschränkten Hände hinunter.
„Welche Worte?“
„Schönheit und Liebe.“ Loana blickte auf und sah, dass ein Schatten durch die Augen ihrer Mutter huschte.
„Ah, ma fleur“, murmelte Elodie mit einem schiefen Lächeln. Sie legte Loana eine Hand an die Wange, wie sie es schon in Loanas Kindheit getan hatte. Auch der Kosename stammte aus dieser Zeit.
„Ich habe eine Frage an dich“, sagte Loana. Die Worte, die sich in ihrer Kehle bildeten, fühlten sich an wie riesige Kieselsteine.
„Welche mein Schatz?“
Loana räusperte sich und fragte: „Hast du meinen Vater geliebt?“
Elodie ließ die Hand sinken und sah sie lange an, keine Gefühlsregung in ihrem hellen Blick. „Das hast du noch nie gefragt.“
„Ich weiß, aber jetzt möchte ich es wissen.“
Nein, sie musste es wissen. Aber das verriet sie ihrer Mutter nicht. Es war ungeschriebenes Gesetz in der Familie Lacroix, dass die Erzeuger niemals von ihren Töchtern erfuhren. Geschweige denn, dass die Frauen der Familie heirateten. Ebenso war es ein absolutes Tabu, irgendwem von ihrem magischen Blut zu erzählen.
Loana hatte sich diesbezüglich mit mehreren ihrer Freunde in St. Ives ausgetauscht und beinah alle hatten ihr von ähnlichen Regeln in deren eigenen Familien berichtet. Marleen und ihre Schwestern kannten ihre Väter nicht, ebenso wenig wie Kalliope und Phoebe.
Die rein weiblichen anderen Anderen hatten es freilich leichter, dem menschlichen Part des Elternteils das wahre Gesicht vorzuenthalten. Aber auch Alessio und Nikolai kannten ihre Mütter nicht, denn ihre Väter hatten sie schlicht nach der Geburt geraubt. Eine Tat, die auf den ersten Blick grausam erschien, aber dennoch ihre Berechtigung hatte.
Loana hatte es auch nie an etwas gefehlt und sie wollte auch jetzt nicht wissen, wer bei ihrer Zeugung beteiligt gewesen war. Aber die Frage, ob ihre Mutter in diesen gesichts- und namenlosen Mann verliebt gewesen war – echte, aufrichtige Liebe – quälte Loana schon seit einigen Wochen.
„Ja“, antwortete Elodie rau. Sie räusperte sich, fasste abermals nach Loanas Händen und fügte hinzu: „Ich hatte ihn geliebt. Vielleicht liebt ein Teil von mir ihn immer noch. Wie könnte ich auch nicht, wo er mir so eine wundervolle Tochter geschenkt hat?“
„Merci Maman“, erwiderte Loana und nahm die ältere Frau in den Arm.
„Immer, mein Schatz“, versicherte ihr Elodie und sie rückten ein Stück voneinander ab. „Gib gut auf dich Acht.“
„Mach ich, versprochen.“
Sie umarmten sich ein letztes Mal, bevor sie sich trennten und Elodie sich zu Fuß auf den Heimweg machte. Loana stieg in ihren Wagen und fuhr los. Leise, klassische Musik drang aus dem Radio, während sie Meile um Meile hinter sich brachte, ihre Gedanken überall und nirgendwo.
Sie fühlte sich gleichzeitig erschöpft und aufgekratzt, als sie auf die holprige Straße durch den Wald einbog, die das Anwesen mit der Ortschaft St. Ives verband. Groß und dunkel, nur mit wenigen erleuchteten Fenstern, hoben sich die Gebäude von dem noch jungen Nachthimmel ab.
Nachdem sie das Auto in die Garagen gestellt hatte, ging sie direkt in ihr Zimmer. Ihr war an diesem Abend nicht mehr nach Gesellschaft. Viel lieber wollte sie sich bei einem guten Buch entspannen. Tatsächlich begegnete Loana auf ihrem Weg ins Obergeschoss des Haupthauses niemandem.
In ihrem Zimmer streifte sie ihre Schuhe ab, stellte ihre Tasche auf den Tisch neben der Tür und nahm ihr Handy heraus, um die anderen wissen zu lassen, dass sie wieder Zuhause war. Anschließend ging Loana Richtung Badezimmer. Vielleicht sollte sie doch ein Bad nehmen, bevor sie sich ihrer Lektüre widmete.
Noch unschlüssig über die Antwort auf diese Frage, schaltete Loana das Licht ein…
… und glaubte, dass ihr das Herz stehen blieb.
Aus dem großen Spiegel, der die gesamte Wand hinter dem Waschtisch einnahm, sah ihr eine fremde Gestalt entgegen. Eine alte Frau, mit aschfahler Haut und unzähligen Falten. Trübe Augen, um deren Pupillen ein roter Ring unheilvoll glomm, sahen sie aus einem missgestalteten Gesicht an. Struppiges Haar, das an Stroh erinnerte, türmte sich auf dem Kopf der Gestalt, deren Körper klein und verkrüppelt unter dem lumpigen Gewand hervorlugte.
„Oh mein Gott“, murmelte Loana… und die hässliche Hexe im Spiegel bewegte synchron dazu die Lippen. Wie durch Watte hörte Loana hinter sich aus dem Zimmer das Läuten ihres Telefons. Paralysiert und nicht im Stande zu verarbeiten, was sie gesehen hatte, drehte sie sich um und ging zu ihrem Handy. Sie humpelte, da eines ihrer Beine kürzer war als das andere. Endlich an dem Tischchen angekommen, benötigte Loana mehrere Anläufe, um den Anruf ihrer Mutter entgegenzunehmen.
„Loana, ma fleur, es ist passiert“, sagte Elodie mit halberstickter Stimme. „Astrid hatte einen Autounfall. W-wir können Nika nicht erreichen, aber Danielle ist schon auf dem Weg zu ihr und Yvonne ebenfalls. Sie… sie sollte in ihrer ersten Nacht als erwachte Korrigan bei ihr sein.“
„Ihr könnt euch den Weg sparen“, wisperte Loana.
„Was? Warum denn?“
Loana sah auf ihre freie Hand hinunter, betrachtete die altersfleckige und faltige Haut, die von Gicht geschwollenen Knöchel und die verformten Fingernägel. Tränen brannten in ihren Augen, sie kniff sie fest zu und versuchte, an dem Kloß in ihrem Hals vorbei zu schlucken.
„Weil das Erbe mich getroffen hat.“