Leseprobe "Höllenfeuer"

Buchcover "Höllenfeuer", Teil zehn der Romantic-Fantasy-Reihe "Die anderen Anderen" der Autorin Melissa Ratsch

Kapitel 1

 

„Oh, ich liebe es!“

Reika drückte das Buch an ihre Brust, als wäre es ein kostbarer Schatz. Ihr Blick schweifte durch das große Wohnzimmer und landete auf Blake. Dieser setzte sich aufrechter hin und sie hätte schwören können, dass sie ihn schlucken sehen konnte.

„Es gefällt dir also?“, fragte er. Reika konnte nicht anders als zu nicken, während sie leise lachte. Es war rührend, wie unsicher er klang. Dabei war es nicht das erste Buch, das er geschrieben hatte. Reika hatte die vorigen ebenfalls gelesen und daher wusste sie, von was sie sprach, als sie sagte: „Ich glaube, es ist bisher deine beste Arbeit.“

„Wirklich?“, platzte es aus dem Pixie heraus und es war, als wäre eine unsichtbare Barriere verschwunden. Blake hatte sich kaum erhoben, um zu ihr zu kommen, da stellte er auch schon die ersten Fragen: Was sie von den Protagonisten hielt, von den Gegenspielern, ob es ihrer Meinung nach Plot-Löcher gab oder andere Ungereimtheiten.

Geduldig beantwortete Reika eine Frage nach der anderen. Dabei strich sie immer wieder über den nichtssagenden Einband des Buches. Blake hatte seinen Agenten dazu gebracht, einige Testexemplare anfertigen zu lassen. Moira hatte eins, Reika ebenso und Patrik hatte auch ein Exemplar erhalten. Er war allerdings noch nicht fertig und sie konnten sich nur so detailliert unterhalten, weil der Historiker nicht im Raum war.

Stattdessen saßen auf den Sofas und Sesseln einige ihrer anderen Freunde von Alii: Owen, Raven, Natalia und Alessio spielten ein Brettspiel, Kalliope saß mit ihrem Tablet auf dem Schoß in einem Sessel, Lír und Marleen unterhielten sich und bis eben hatte Blake sich noch mit einem Buch beschäftigt. Die restlichen Mitglieder ihrer Gemeinschaft waren entweder irgendwo anders auf dem Anwesen oder befanden sich auf Reisen.

Dennoch strahlte das weitläufige Anwesen noch den Charme eines geschäftigen Bienenstocks aus. Jetzt allerdings, im großen Wohnzimmer im Haupthaus, herrschte eher eine gemütliche Atmosphäre. Es war früher Abend, aber dennoch drückte Dunkelheit gegen die Fenster und im Kamin brannte ein Feuer. Anfang Februar war selbst im Süden von England noch Winter mit allem, was dazu gehörte: Kurze Tage und klirrende Kälte.

Die meisten auf dem Anwesen hatten eine Lieblingsjahreszeit, aber Reika nicht. Sie liebte den Winter mit dem vielen Schnee und den klaren Nächten genauso wie den milden Sommer, selbst mit den vielen kurzen Regenschauern. Der Herbst zauberte wunderschöne Farben in das Laub des Waldes und im Frühling explodierte die Natur regelrecht vor neuem Leben.

Sie wusste, dass der Mann ihr gegenüber und seine Partnerin für Letzteres mitverantwortlich waren. Als Pixies hatten sie einen besonderen Draht zu allem, was grünte und blühte. Im Moment war Blake jedoch ganz Autor, der sie gnadenlos mit seinen Fragen löcherte.

Reika fühlte sich nicht belästigt, im Gegenteil. Als Blake sie gefragt hatte, ob sie Testleserin sein wollte, hatte sie sich geschmeichelt gefühlt. Sie hatte in den mehr als fünfzig Jahren ihres Lebens schon so einige Berufe ausgeübt, darunter war sie bereits Lektorin und Übersetzerin gewesen, weswegen Blake ihre Meinung besonders schätzte.

Es erzeugte ein warmes Gefühl in ihrer Brust. Genauso wie das Wissen, dass sie hier auf dem Anwesen eine wichtige Aufgabe erfüllte. Sie konnte hier dazu beitragen, das Leben anderer Monster auf der Welt sicherer zu machen.

Selbst die Tatsache, dass es für sie eine schlimmere Bedrohung gab, als von den Menschen entdeckt zu werden, konnte Reikas Zuversicht nicht bremsen, dass sie hier etwas Bedeutendes taten. Etwas, das Bestand haben und vielen anderen Anderen das Leben nachhaltig erleichterten und verbesserten würde.

Der Punkt jedoch, der ihre Zuversicht trübte und ihr schlaflose Nächte bescherte, lauerte tief in ihr drin. Es war die Tatsache, dass sie noch immer Aussetzer bei der Kontrolle ihrer eigenen Macht hatte. Es war zwei Jahre her, dass sie überraschend ihren zweiten Fuchsschwanz erhalten hatte – etwas, das einer Kitsune sonst nicht vor ihrem hundertsten Geburtstag widerfuhr – und Reika hatte den damit verbundenen Machtzuwachs noch immer nicht vollständig unter Kontrolle gebracht.

Vor einigen Monaten war es im wahrsten Sinne des Wortes brenzlig geworden, als sie einen Ständer mit Postkarten versehentlich in Brand gesteckt hatte. Nicht nur, dass das Feuer um ein Haar auf die anderen Waren und die Front des Ladens übergegangen wäre, sie hatte auch Schwierigkeiten gehabt Peggy zu erklären, warum das passiert war. Die Besitzerin des kleinen Postladens hatte nur widerwillig die Erklärung geschluckt, dass ein vorbeilaufender Tourist mit seiner Zigarette unvorsichtig gewesen war.

Aber das war nicht das Ende von Reikas Missgeschicken gewesen: An Weihnachten hatte sie eine Stichflamme an einem der Gasherde verursacht und erst vor drei Tagen war sie nachts davon aufgewacht, dass der Feuermelder über ihrem Bett angeschlagen hatte: Sie hatte schlecht geträumt und dabei die Bettlaken angesengt. Wie viele sie schon wegen ähnlicher Vorkommnisse hatte wegwerfen müssen, konnte Reika nicht mehr zählen.

„Ich brauche Bettwäsche aus Asbest“, hatte sie frustriert gestöhnt, als sie am nächsten Tag mit Kaori darüber gesprochen hatte. Ihre Cousine hatte den Arm um sie gelegt, ihr einen Kuss auf die Stirn gehaucht und ihr in leisem Japanisch tröstende Worte zugeflüstert. Zehn Minuten später hatten sie neue Bettwäsche für Reika bestellt – aus Baumwolle, nicht aus giftigem Asbest – und hatten eine Videokonferenz mit Hinata geführt. Die erfahrene, neunschwänzige Kitsune hatte Reika daraufhin einige neue Entspannungsübungen vorgeschlagen, die Reika seither jeden Tag zweimal praktizierte.

Noch mit Erfolg und ohne neuem Kontrollverlust. Reika betete, dass es auch so blieb. Leider wurden ihre Gebete nicht erhört, denn keine zehn Minuten später wurde ihre neue Selbstbeherrschung auf eine harte Probe gestellt.

Ein Kribbeln lief über ihre Haut, als sich die Tür öffnete und fünf Personen das Wohnzimmer betraten: Vier davon waren dick eingepackt in Jacke, Schal, Mütze und dicken Stiefeln, während die fünfte nur einen dünnen Mantel trug.

„Hallo ihr“, sagte Marleen grinsend. „Wir dachten schon, ihr kommt nicht mehr zurück.“

„Glaub nur nicht, dass wir nicht mit dem Gedanken gespielt haben“, erwiderte Shari. Sie zog den Schal von ihrem Mund und entblößte ein breites Lächeln. „Hier ist es wie im Eisschrank.“

Yue, die ihren leichten Mantel aufknöpfte, lachte leise und sagte: „Dem möchte ich entschieden widersprechen. Das Wetter dort draußen kann sich kaum Winter nennen.“

„Natürlich nicht, mein Liebling“, murmelte Samir und gab der Yuki Onna einen Kuss auf die Stirn. Der Ifrit war, wie Eliah und Shari, ebenfalls dick angezogen.

Und genauso wie sein bester Freund Dastan.

Reikas Kitsune stellte in ihrem Inneren das Nackenfell auf und legte die Ohren an, als die Augen des vermeintlich jungen Mannes auf ihr liegen blieben. Sie hatten eine ungewöhnliche Farbe, wie Bronze, und enthielten immer eine gehörige Portion Spott, wenn sie Reikas Blick erwiderten. So wie jetzt auch.

Sie hörte nur mit halbem Ohr zu, wie die anderen Ankömmlinge von der Reise erzählten. Sie waren zu fünft in Marokko gewesen, um sowohl Eliahs und Sharis Familien als auch eine alte Frau zu besuchen, die für Samir und Dastan ebenfalls Familie war, wenn auch nicht blutsverwandt. Die betagte Basma hatte bis vor gut einem Jahr mit den beiden Ifrit und Samirs Schwester zusammengelebt.

All diese Informationen waberten irgendwo in Reikas Hinterkopf, doch der Hauptanteil ihrer Aufmerksamkeit lag noch immer auf Dastan. Was auch gut so war, denn der großgewachsene Mann kam auf sie zu, knöpfte dabei seinen Mantel auf und sagte kurz vor ihr mit einem Grinsen: „Ich hätte nicht gedacht, dass das Haus noch steht.“

„Was soll das heißen?“, knurrte Reika.

Dastan zuckte mit den breiten Schultern. „Ich hätte erwartet, dass du zumindest eines der Nebengebäude in Brand steckst.“ Er sah bedeutungsvoll zu dem Kamin und fragte süffisant: „Bist du sicher, dass du dich so nah an offenem Feuer aufhalten solltest?“

„Ich habe mich sehr gut unter Kontrolle.“

„Ach ja?“, fragte er, hob eine dunkle Augenbraue und beugte sich ein Stück zu ihr hinunter. Nur noch wenige Zentimeter trennten ihre Gesichter und sie konnte die Maserung in seinen Augen erkennen.

„Ja“, zwang sie sich zu sagen. Obwohl Reika zurückweichen wollte, rührte sie sich keinen Millimeter.

Womit sie jedoch nicht gerechnet hatte, war, dass Dastan direkt vor ihr mit den Fingern schnippen und damit eine kleine Stichflamme erzeugen würde. Mit einem Japsen zuckte Reika zurück – und die Flammen explodierten regelrecht vor ihr.

„Du bist so ein Arschloch!“, keifte Reika. Sie stand von ihrem Sessel auf, ihre Brust hob und senkte sich schnell. Ihre Hände knackten, es schmerzte und doch gierte sie nach diesem Gefühl. Die Kitsune schob sich an die Oberfläche, lieh ihr ihre scharfen Krallen, damit sie diesem Mistkerl das viel zu hübsche Gesicht zerkratzen konnte.

„Mach so etwas nie wieder“, knurrte sie. Ihre Worte waren undeutlich, da sich auch ihre Eckzähne verlängert hatten. Ihr starrer Blick war weiterhin auf den verdammten Ifrit gerichtet, der von all dem völlig unbeeindruckt zu sein schien.

„Sonst was?“, fragte er, noch immer breit grinsend.

„Sonst ziehe ich dir das Fleisch von den Knochen.“ Magie knisterte in der Luft, machte sie dick und schwer. Zusätzlich zu der Hitze, die zwischen ihnen flirrte. Reika konnte sehen, dass Dastan etwas erwidern wollte und sie freute sich schon darauf, ihre Drohung wahrzumachen, doch dazu kam es nicht.

„Schluss damit!“

Der energische Ruf ließ Reika zusammenzucken und sie drehte den Kopf in die Richtung, aus der er gekommen war…

… nur um vor Schreck nach Luft zu schnappen. Von einer Sekunde auf die andere erlosch das Feuer in ihren Adern und sie musste an sich halten, um sich nicht an die Brust zu fassen. Aus Angst, ihr Herz wäre stehengeblieben, obwohl sie es noch deutlich hinter ihren Rippen pochen spürte.

Es wäre aber kein Wunder gewesen, wenn es einfach aufgehört hätte zu schlagen, denn nur wenige Meter entfernt stand eine Gestalt, die man nur als Dämon bezeichnen konnte: Zwei dunkelrot-glühende Augen starrten sie aus einem Gesicht an, an dessen Konturen sich schwarze Dornen durch die helle Haut geschoben hatten. Das bleiche Haar bewegte sich in einem Windhauch, der sonst niemanden im Raum zu berühren schien.

„Wenn ihr beide nicht sofort aufhört“, schnaufte Kalliope und ihr glühender Blick huschte zwischen ihnen hin und her, „dann schwöre ich, dass ich euch einen Monat lang zum Frühdienst in der Küche eintrage. Habt ihr mich verstanden?“

Reika nickte schnell. Himmel, sie hatte bisher kaum einen Blick auf das dämonische Äußere der Harpyie werfen können. Was auch gut so war, wie sie jetzt feststellte. Kalliope sah wirklich zum Fürchten aus. Auch der Ifrit an ihrer Seite murmelte gedämpft seine Zustimmung.

„Prima“, zischte Kalliope, atmete tief durch und wurde langsam wieder zu der niedlichen blonden Frau mit Brille, die sie alle kannten. Ihr nunmehr wieder grüner Blick wandte sich an Dastan und sie sagte: „Wie wäre es, wenn du auspacken gehst?“

„Auf jeden Fall.“

„Das machen wir auch“, sagte Shari. Blinzelnd wandte sich Reika ihr zu und erst jetzt wurde sie sich wieder der anderen Anwesenden im Raum bewusst. Sie fühlte deutlich die Blicke ihrer Freunde auf sich. Am liebsten wäre sie sofort im Erdboden versunken.

Als die fünf Rückkehrer das Wohnzimmer verlassen hatten, atmete Reika tief ein und sagte: „Tut mir leid.“

„Schon gut“, kam es von Lír. Er zwinkerte ihr zu, aber das trug nicht dazu bei, dass sie sich entspannen konnte.

„Du weißt doch, dass er dich gerne provoziert“, sagte Marleen an seiner Seite. „Vielleicht hat ihm das gefehlt, als er fort war?“ Die Sirene lächelte langsam und ihre dunkelblauen Augen glommen sanft. Für einen Moment fragte sich Reika, ob die Sirene irgendetwas von ihr oder Dastan aufgeschnappt hatte.

„Das ist absolut lächerlich“, murmelte Reika. Sie schüttelte den Kopf, entschuldigte sich ein weiteres Mal und verließ den Raum. Sie war froh, dass sie niemandem begegnete, während sie in ihr Zimmer ging. Zu ihrem Glück hatte Dastan, sowie Yue und Samir, seine Privaträume in einem der Nebengebäude. So konnte sie sich immerhin sicher sein, ihm nicht in diesem Teil des Haupthauses über den Weg zu laufen.

Mit einem Laut, der irgendwo zwischen Knurren und Seufzen lag, schlug sie die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Die letzten zweieinhalb Wochen waren so friedlich gewesen. Fast schon harmonisch, wenn man den Zwischenfall mit dem Alptraum und dem Bettlaken außer Acht ließ.

Seit sie ihm das erste Mal begegnet war, stritten sie sich.

Sie hatten zwar einen holprigen Start gehabt – Reika war bei ihrem Sprung nach Marokko sprichwörtlich auf Dastan gelandet und hatte ihn unbeabsichtigt zu Boden gerissen – aber in ihren Augen war das noch lange kein Grund, dass er sie ständig weiter nerven musste.

„Elender Bastard“, schnaubte sie und schob die Gedanken von sich.

Mit einem Seufzen stieß sie sich von der Tür ab und ging zu der kleinen Sitzecke vor den Fenstern. Sie legte Daumen und Zeigefinger um den Docht einer Kerze, die auf dem niedrigen Tisch stand. Ein Knistern ging durch die Luft und eine Flamme züngelte.

Schon kurz darauf breitete sich der schwere, süßlich-holzige Geruch der Kerze im Raum aus, während Reika ein dickes Sitzkissen unter dem Sessel hervorzog. Sie ließ sich darauf im Schneidersitz nieder, ballte ihre Hände zu Fäusten und legte sie vor ihrem Bauch aneinander. Die Augen halb geschlossen, den Blick auf die Flamme gerichtet, begann Reika tief zu atmen, wie Hinata es ihr als Kind beigebracht hatte.

Obwohl die andere Kitsune genaugenommen ihre obasan war – ihre Tante – war sie schon immer viel mehr Mutter für sie gewesen, als es die Frau war, die den Titel eigentlich tragen sollte. Dumm nur, dass Midori Saito sich noch nie für ihre Tochter interessiert hatte und sogar froh darum gewesen war, Reika bei ihrer jüngeren Schwester abladen zu können.

Es zischte und Reika biss die Zähne zusammen, als sie sah und spürte, dass das Feuer um den Kerzendocht höher loderte. Es passierte schon wieder, verdammt nochmal.

Leise begann sie, ein Mantra zu summen und die überbrodelnde Energie in ihrem Inneren an die Schutzbarriere um das Anwesen herum zu leiten. Sie hatte sich lange mit Kaori und Nikolai beratschlagt und sie konnte das Kraftfeld als zusätzliches Ventil benutzen.

Es war jedoch wichtig, dass sie behutsam vorging und die Barriere nicht sprunghaft verstärkte, da das die Aufmerksamkeit von Wesenheiten erregte, vor denen sie verborgen bleiben wollten. Kein Mitglied von Alii, egal ob auf dem Anwesen oder nicht, wollte im Fokus der Gaianati stehen.

Reika würde es sich nie verzeihen der Grund dafür sein, dass jemand anderes als der geheimnisvolle Jaidyn von dem Anwesen erfuhr. Es war beunruhigend genug, dass er von ihnen wusste und noch mehr, dass sie ihm einen Gefallen schuldeten. Eigentlich zwei, wenn man es genau nahm. Nicht zu vergessen das Versprechen, dass sie dieser Deva gegeben hatten.

Bisher war weder Jaidyn noch Deva an sie herangetreten, um diesen Gefallen einzufordern. Reika und auch die anderen waren sich aber sicher, dass der Tag eher früher als später kommen würde. Die Frage war nur, was genau es sie alle kosten würde, diese Schulden zu begleichen.

All ihre Bemühungen der letzten Monate, mehr über diese beiden und auch die Gaianati herauszufinden, waren vergeblich gewesen. Weder ihre weltlichen noch ihre magischen Methoden hatten zu irgendeinem brauchbaren Ergebnis geführt. Zumal vor allem die übernatürlichen Praktiken behutsam hatten angewendet werden müssen, um nicht doch die Aufmerksamkeit weiterer dieser Wesenheiten auf sie zu lenken.

Es war zum Verrücktwerden.

Reika atmete tief durch und ließ den Ärger und die Sorge darüber ihren Körper verlassen. Sie brauchte innere Ruhe und Gleichgewicht, um sich und ihre Magie endlich in den Griff zu bekommen. Ein Stück weit war es ihr mit den Entspannungstechniken und mit der Abgabe ihrer Kraft an die Barriere gelungen, aber es reichte noch nicht.

Frustriert schlug sie die Augen auf, schnippte und löschte damit das Licht der Kerze. Im Dunkeln verließ sie ihr Zimmer, stieg die Treppen hinunter und durchquerte die Eingangshalle. Eisiger Wind empfing sie, als sie auf den Kiesplatz mit der großen Eiche hinaustrat. Der Baum, dessen gewaltige Krone im Sommer viel Schatten spendete, streckte seine kahlen Zweige in den Nachthimmel.

Reika ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei und steuerte direkt auf eine der Scheunen zu. In einer davon gab es ein Gewächshaus, eine andere diente als Garage und die dritte als Materiallager. Oder besser als Rumpelkammer, wie Kalliope sie bezeichnete. Reika war das Chaos darin egal, denn sie benutzte es nur als „Umkleidekabine“.

Bei diesem Gedanken musste sie grinsen. Schnell schlüpfte sie durch die Tür und begann sich auszuziehen. Die eisige Luft auf ihrer Haut war Fluch und Segen zugleich. Ihr langes Haar legte sich wie ein Mantel über ihren nackten Rücken, als sie ihre Kleidung zusammenlegte und auf ein leeres Regalbrett an der Wand legte.

Sie wusste, dass sie sich nicht so heimlich verhalten müsste. Nicht hier auf dem Anwesen, wo jeder wusste, was unter der menschlichen Fassade eines jeden lauerte. Sie hätte sich genauso in ihrem Zimmer in eine Kitsune verwandeln und von dort aus hinauslaufen können, aber das wollte Reika nicht.

Nicht, weil sie sich schämte oder weil sie die Blicke ihrer Freude fürchtete. Es war ein beliebter Zeitvertreib, sich teilweise zu wandeln und die anderen zu erschrecken oder zum Lachen zu bringen, wenn die Arbeit sie frustrierte oder sie drohten, einen Lagerkoller zu bekommen. An Neujahr erst hatten sie ein Trinkspiel gemacht, an dessen Ende Reika mit den Ohren und den zwei Fuchsschwänzen ihrer Kitsune lachend am Tisch gesessen hatte.

Heute würde es aber nicht nur bei diesen beiden Merkmalen bleiben. Reika ließ die Halswirbel knacken und lockerte die Fesseln, die das übernatürliche Wesen in ihrer menschlichen Hülle gefangen hielt. Sofort kam die Füchsin ihr entgegengesprungen, das Maul freudig aufgerissen.

Feuer raste über Reikas nackte Haut, hüllte ihre kleine Gestalt ein und unter dem lodernden Orange-Gelb wurde sie von der Frau zur Füchsin. Es war schmerzhaft und gleichzeitig berauschend. All ihre Gelenke knackten, verschoben sich und pressten sich in die neue Form. Ihr Gesicht wurde länger, ihr Brustkorb ebenso und ihre Hände und Füße wurden zu Pfoten. Das Fell dort war schwarz, ebenso wie an den Ohrspitzen, der Schnauze und den Enden der Fuchsschwänze. Ansonsten schimmerte das Deckhaar ihrer Kitsune in einem intensiven Rostrot.

Reika hechelte, als es vorbei war und schüttelte ihren Pelz zurecht. Man hätte sie für einen gewöhnlichen Fuchs halten können, vielleicht etwas groß geraten, wären da nicht die zwei Schwänze gewesen. Reika sah über ihre Schulter und schnaubte durch die Nase. Diese beiden Dinger waren dafür verantwortlich, dass sie sich selbst ständig in Schwierigkeiten brachte.

Egal, dachte sie und setzte sich in Bewegung. Mit der Schnauze drückte sie die Tür auf, hielt die Nase in den Wind und schnupperte. Sie mochten hier auf dem Gelände sicher sein, aber Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste. Als sie keine verdächtigen Gerüche bemerkte, rannte Reika mit einem albernen Yipp los.

Ihr Körper bewegte sich pfeilschnell auf den Wald zu. Dabei wich sie den tiefen Schneewehen aus, die sich unter der glitzernden Oberfläche verbargen – sie war oft genug in sie hineingestürzt - und preschte hinein ins Unterholz. Sie würde so lange laufen, bis sie erschöpft war.

Bis das Feuer in ihrer Brust nicht mehr hell und verzehrend loderte.

 

Bis sie vor Erschöpfung einschlafen konnte.