Vergilbter und abgegriffener Brief von Faye McGrath an Raven McGrath, versteckt hinter einer losen Bodendiele:
Meine geliebte Raven,
es tut mir leid.
Es tut mir leid, dass ich nicht bei dir sein kann. Dass ich dich nicht vor ihnen beschützen konnte. Dass ich gestorben bin ohne dir sagen zu können wie sehr ich dich liebe. Dich zu haben war das größte Geschenk, das sie mir machen konnten – dabei warst du dazu gedacht mich zu zerstören. Aber sie haben sich geirrt, denn durch dich habe ich etwas bekommen, das sie mir nicht mehr nehmen können: Ich habe Liebe gefunden.
Raven, du bist etwas ganz Besonderes. Nicht, weil du kein Mensch bist, sondern weil du die Kraft hattest in meinem kalten Herzen so viel Wärme zu erzeugen, dass ich nie wieder gefroren habe. Ich würde alles dafür geben zu sehen zu was für einer außergewöhnlichen Frau zu heranwächst.
Aber das kann ich nicht und es gibt keine Worte dafür wie sehr es mir leidtut. Denn es wird nicht leicht werden.
Lass dir deine Flügel nicht stutzen, auch wenn sie versuchen sie dir zu brechen und dich in einen Käfig sperren. Du musst stark sein wo ich es nicht konnte, um so frei zu sein wie du es verdienst.
In ewiger Liebe,
deine Mutter
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Raven war so erschöpft.
Müde bis auf die Knochen. Wie ein Auto, das nicht mehr nur auf Reserve lief, sondern schon mit Luft und reinem Willen vorwärtsfuhr. Jeder Schritt, jeder Atemzug war unglaublich anstrengend. Dazu hing ihre Geduld an einem seidenen Faden, der jeden Augenblick reißen könnte. Und als wäre es nicht schon anstrengend genug überhaupt aufrecht zu sitzen, musste sie sich bemühen nicht die Beherrschung zu verlieren und mit Gift um sich zu spritzen wie eine Viper.
Sie durfte sich nicht gehen lassen. Wenn sie dem brodelnden Zorn in sich nachgab würden Menschen sterben. Das war schon vorher durch ihre Hand geschehen, doch dieses Mal wäre es allein ihre eigene Schuld. Nur sie wäre dann für ihren Tod verantwortlich. Nur das Wissen, dass sie es tun musste um selbst zu überleben hielt sie davon ab wahnsinnig zu werden bei der Erinnerung an die Menschen, die sie verstümmelt hatte. Die sie getötet hatte.
Doch an Tagen wie diesen, wo sie innerlich so hohl und leer war, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf, dass sie diese Leere mit Blut und Schreien füllen könnte. Sie würde sich sicher besser fühlen, wenn sie in dem noch warmen Blut Unschuldiger baden würde. Es würde sie mit neuer Energie versorgen. Die Lebenskraft der Opfer würde ihre Batterien auffüllen.
Bei dem Gedanken hob und senkte sich ihr Magen, so dass sie eine Hand auf den Mund pressen musste um sich nicht zu übergeben.
„Nein“, drang es durch ihre zitternden Finger. Nein, das würde sie nicht tun. Wenn sie diese Schwelle überschritt, dann war sie ein noch schlimmeres Monster als die Familie, deren Eigentum sie war. Diese Erkenntnis drang durch den schwarz-roten Nebel in ihrem Kopf und holte sie aus dem blutrünstigen Morast heraus, in den die abgedriftet war.
Raven hob den Blick und betrachtete das Stück grauen Himmel, das sie durch das Fenster sehen konnte. Die Gitter nahm sie schon gar nicht mehr war. Sie waren schon immer dort gewesen, sie kannte es nicht anders. Das Fenster an sich ließ sich nur einen winzigen Spalt öffnen. Kaum genug, dass sie an heißen Sommertagen etwas frische Luft hereinlassen konnte, wenn die Sonne untergegangen war.
Dieses Zimmer, das einzige Zuhause das sie je gehabt hatte, war gleichzeitig ihr Gefängnis. Aber es gab noch andere Dinge, die sie an dieses Haus, an diese Familie banden. Blut und Magie zwangen sie dazu hier zu bleiben und den Wünschen derer zu gehorchen, die ihre Seele besaßen. Im übertragenen Sinne natürlich, denn sie war ein Monster und besaß demnach nichts so reines wie eine Seele.
Sie war ein Werkzeug, Besitztum, Schreckgespenst, eine Last. Raven war in dieses Leben hineingeboren worden und tat alles um zu überleben. Und dieses Alles bestand an den meisten Tagen darin so gut wie möglich unsichtbar zu sein. Aber an anderen…
Diese waren mit eben jenen Schreien gefüllt, nach denen die Leere in ihr im Moment hungerte.
Vielleicht war sie tatsächlich zu dem Dämon geworden, den sie sie immer wieder genannt hatten.
Was sie übersahen, was sie immer zu verdrängen schienen, war dass es allein ihr Verdienst war. Sie hatten sie zu dem gemacht was sie war. Sie hatten ihre Andersartigkeit beansprucht, ihren Blutschwur missbraucht und sie zu einer Waffe gemacht. Einem Werkzeug, das sie nach Belieben einsetzen konnten.
Aber was sagte es über sie selbst aus?
Wer war von ihnen das wahre Monster?
Ein kleines, kaltes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Ah, dieses Gedankenspiel mochte sie. Es lenkte sie von der schreienden Leere ab. So lange, bis sie wieder die Erlaubnis hatte in die Welt zu gehen.
Unvermittelt huschte ein Bild durch ihren Verstand: Ein großgewachsener Mann in dunkler Kleidung, sein Körper in gleisendes Licht gebadet, sein Gesicht weiterhin im Schatten der Nacht. Seine Stimme… sie schloss die Augen.
Der Klang, wenn auch nur in ihrer Erinnerung, besänftigte die dunkle Kreatur in Ravens Herzen.