Leseprobe "Wolfsstimme"

Buchcover "Wolfsstimme", Teil fünf der Romantic-Fantasy-Reihe "Das Highborn-Projekt" der Autorin Melissa Ratsch

Kapitel 1

 

Ihr Herz schlug so hart in ihrer Brust, dass ihre Rippen schmerzten. Schweiß hatte sich auf ihrer Haut gesammelt, sickerte in ihre Kleidung und ließ sie frösteln. Die Temperatur im Kofferraum des Wagens war niedrig, draußen lag noch immer Schnee. Zudem harrte sie schon seit Stunden hier aus. Ihre Muskeln waren verkrampft.

Warum nur tat sie sich das an?

Für meine Familie, sagte sich Canys und blieb weiter ruhig liegen, doch es war nicht einfach. Ihre Wölfin war extrem gestresst. Überall im Fahrzeug roch es nach Sternanis und Waffenfett. Sie meinte sogar, einen leichten Hauch von Blut und Tod zu erhaschen.

Sie hatte sich den denkbar schlechtesten Ort der ganzen Stadt ausgesucht und doch war es genau der Ort, an dem sie sein musste. Sie wusste, dass er heute abreisen würde und egal, wohin er ging, sie würde ihn begleiten. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie das musste. Gleichgültig, wie sehr sie sich davor fürchtete.

Denn die Angst um ihre Familie, um ihre Freunde und diejenigen, die sie liebte, war noch viel größer. Es mochte feige von ihr gewesen sein, sich aus dem Haus zu stehlen und nur einen Zettel zurückzulassen. Aber für eine offene Diskussion mit Ally, Lycan und den anderen hatte sie nicht die nötige Kraft aufgebracht.

Sie mochte sich körperlich von der Zeit in den Laboren erholt haben und auch ihre Psyche war auf einem guten Weg, aber dafür war sie noch nicht taff genug. Würde es vielleicht nie sein, denn um sich gegen ihre Alpha und ihren dominanten Bruder durchzusetzen, da fehlte ihr schlicht die Veranlagung.

Aber was sagte es über ihren Verstand aus, dass sie sich im Fahrzeug eines Söldners und Mörders versteckte?

Ihre Wölfin winselte in ihrem Kopf, wollte sie drängen, zurückzukehren in den Schoß ihrer Familie. Endlich waren sie vollzählig, sie hatten Ursyn gefunden und Felinas Lähmung war auf einem guten Weg und bald völlig zu verschwinden.

Doch die Freiheit, die sie gerade genossen, war nur eine Illusion. Das spürte Canys bis in ihre Knochen. Mochte die dunkelhäutige Söldnerin auch ihr Wort halten und nichts über den Aufenthaltsort der Hybrid-Geschwister verraten, so war ConPharm doch sicher noch nicht fertig mit ihnen.

Und außerdem… dieser eine Satz, den der Besitzer des Wagens in dem heruntergekommenen Diner gesagt hatte, ging Canys einfach nicht aus dem Sinn. Er hatte sie als erste Generation von Hybridwesen bezeichnet. Paranoid oder nicht, Canys war sich sicher, dass er diese Formulierung nicht umsonst verwendet hatte. Seine Betonung hatte auf ‚erste‘ gelegen. Ganz so, als würde es eine zweite geben. Etwas, was nicht sein durfte, aber vor dem die kranken Wissenschaftler bei ConPharm nicht zurückschrecken würden.

Canys würde herausfinden, was es damit auf sich hatte, und Scott Hewlett würde sie dorthin führen. Darin bestand für sie kein Zweifel, all ihre Instinkte – sowohl der Frau als auch der Wölfin – sagten ihr das. Was aber nicht hieß, dass sie nicht trotzdem große Angst davor hatte.

Canys schloss die Augen, drückte ihren Rucksack fester an ihre Brust und begann mit den Atemübungen, die Aleydis ihr schon vor Monaten gezeigt hatte. Sie hatte sich viel mit solchen Übungen, sowie mit mentalem Training und Meditation beschäftigt, um ihre Ängste und die Panikattacken in den Griff zu bekommen. Auch jetzt halfen ihr die gleichmäßigen Atemzüge und die Fokussierung auf ihren Körper, sich zu beruhigen…

… so lange, bis sie Schritte von draußen hörte. Sie waren schwer, gleichmäßig und Canys würde ihren Pelz darauf verwetten, wenn sie von Scott Hewlett stammten. Vor allem, weil keine Minute später die Tür zur Rückbank des Fahrzeugs geöffnet wurde und zusammen mit der eisigen Luft ein Schwall Sternanis ins Wageninnere schwappte.

Canys biss die Zähne zusammen, um still zu sein. Sie durfte nicht das leiseste Geräusch von sich geben. Dieser Moment war kritisch, denn wenn er sie jetzt entdeckte, dann war ihre Mission schon gescheitert, bevor sie richtig begonnen hatte.

Man hörte es Rascheln, Stoff rieb über Stoff, ehe ein dumpfes Plumpsen erklang. Anschließend wurde die Tür wieder zugeschlagen und eine weitere geöffnet. Das Auto bewegte sich, als jemand einstieg und kurz darauf wurde der Motor gestartet. Ruckelnd setzte sich das Gefährt in Bewegung. Leise Musik aus dem Radio vermischte sich mit den Rollgeräuschen der Reifen.

Ganz ruhig, sagte sich Canys und lockerte vorsichtig ihre verkrampfen Muskeln. Sie waren losgefahren, jetzt gab es kein Zurück mehr. Das Auto bewegte sich gleichmäßig, fuhr einige Kurven und selbst unter der Plane, unter der sie sich verbarg, spürte sie, dass die Luft langsam wärmer wurde.

Der erste Schritt war getan und Canys erlaubte es sich, sich ein wenig zu entspannen. Sie war nicht naiv genug zu glauben, dass sie sich ewig im Kofferraum versteckt halten konnte, ohne entdeckt zu werden. Aber je länger es dauerte, desto besser standen ihre Chancen.

Hoffte sie zumindest. Andererseits… es war Scott Hewlett, dem sie sich als blinden Passagier untergeschmuggelt hatte. Er war unberechenbar und verhielt sich oft exakt gegenteilig von dem, was man erwartete. Gut möglich, dass sie einen folgenschweren Fehler begangen hatte.

Canys schluckte und schloss die Augen, beruhigte sich mit weiteren Atemübungen. Es half, aber auch nur so lange, bis sie ein dumpfes Tuten hörte. War das das Freizeichen eines beginnenden Telefonats?

„Scott“, brummte ein Mann und Canys hätte um ein Haar die Beherrschung verloren. Adrenalin flutete ihren Körper, ihre Fingerspitzen und der Kiefer begannen schmerzhaft zu kribbeln, da sich Krallen und Fangzähne der Wölfin herausschieben wollten.

Das war er! Der erbarmungslose, sadistische Laborleiter von ConPharm!

Canys presste sich eine Hand auf dem Mund und schloss fest die Augen, als sie drohte, von Erinnerungen in den dunklen, alles verzehrenden Abgrund ihrer Vergangenheit gezerrt zu werden. Sie durfte jetzt nicht ausrasten!

„Was gibt’s?“, fügte Snyder hinzu und Canys schmeckte Blut und Galle auf der Zunge.

Scott Hewlett schien diese Probleme nicht zu haben. Seine Stimme klang locker und man hörte den Silben das Lächeln an, als er erwiderte: „Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, mein Freund.“

Freund? Er mit diesem… diesem Mann befreundet?

Ihre Wölfin zerrte heftiger an der Kette, wollte ihre menschliche Seite davon überzeugen, dass sie sofort fliehen mussten. Das Tier, das nur in schwarz und weiß denken konnte, sagte ihr deutlich, dass jeder Mensch, der mit den Wissenschaftlern einen solch lockeren Umgang pflegte, eindeutig ihr Feind sein musste.

Wir bleiben, sagte Canys der Wölfin, auch wenn sich ihr noch immer der Magen zusammenkrampfte. Ein Glück, dass er leer war, sonst hätte sie sich vielleicht doch noch übergeben. Stattdessen zwang sie sich, dem Telefonat genau zuzuhören.

„Lass den Unsinn“, forderte Snyder hörbar ungehalten, „dafür habe ich im Moment keine Nerven.“

„Na schön, dann heute keinen gepflegten Smalltalk“, erwiderte Scott.

„Ich wäre dir dankbar. Hier ist die Stimmung gerade derartig im Keller, dass es mich nicht wundern würde, wenn der Vorstand meine Eier auf einem silbernen Tablett fordert.“

Scott atmete hörbar ein und erwiderte: „Uh, das hört sich unangenehm an.“

„Ist es auch.“

„Hängt es mit eurer neusten Forschungsreihe zusammen?“, fragte Scott. Sofort spitzte Canys noch mehr die Ohren.

Ein Schnauben war Snyders Reaktion. Es hörte sich fast nach einem Lachen an. „Nein, zum Glück nicht. Dein Auftrag läuft also noch.“

„Ich bin auch gerade auf dem Weg dahin“, antwortete Scott. Er klang zufrieden. „Wie weit ist die Frau?“

„Achter Monat. Theoretisch könnte es jeden Tag zur Geburt kommen.“

Canys brauchte ein, zwei Sekunden, bis bei ihr der Groschen fiel. Das hatte der Söldner gemeint! Ihre Geschwister und sie waren tatsächlich die erste Generation, weil es eine zweite gab! Oder zumindest in absehbarer Zeit geben würde!

ConPharm hatte es also tatsächlich geschafft, die Arbeit ihrer Eltern zu rekonstruieren und weitere Hybridwesen zu erschaffen. Eine weitere Generation, die in derselben sterilen und gewalttätigen Umgebung aufwachsen würde wie Canys und drei ihrer Geschwister.

„Mit Blut kann ich umgehen“, witzelte Scott, was den anderen Mann wieder zu einem Schnauben veranlasste.

„Bitte nicht. Bring sie in eines der Krankenhäuser und kontaktiere unser Team, sollte es vor ihrem Transport soweit sein. Ich will nicht, dass du anderweitig Hand an sie oder die Zwillinge legst.“

„Ich kann ein echter Gentleman sein.“ Jeder Silbe war das Grinsen des Söldners anzuhören… und Canys glaubte ihm aufs Wort. Zu präsent waren noch ihre Erinnerungen an seinen verqueren Rettungsversuch in der Übungshalle von Rafaels Firma.

„In deinen Träumen vielleicht“, lachte Snyder, worauf Canys‘ Eingeweide sich wieder zusammenzogen und Angst seine eisige Hand um ihr Herz legte. Verrückterweise lockerte sie sich wieder, als der Wissenschaftler sagte: „Die Suche nach den ersten vier Subjekten ist gescheitert.“

„Man hat ihre Leichen gefunden?“, fragte Scott und klang dabei ehrlich interessiert. Hätte Canys nicht gewusst, dass er die Wahrheit kannte, sie hätte ihm die Neugier sofort abgekauft. Ein weiterer Beweis dafür, wie abgebrüht der Söldner war.

„Das nicht, aber alle Spuren sind laut deiner Nachfolgerin kalt“, antwortete Snyder. „Die Ausgaben rechtfertigen den Einsatz nicht mehr, sagt sie, und der Vorstand stimmt dem zu. Dennoch sind sie nicht glücklich damit.“

„Immerhin gab es in den letzten Monaten keine Schlagzeilen von irgendwelchen Wer-Viechern.“

„Ein schwacher Trost“, brummte der Laborleiter. „Demnach setze ich großes Vertrauen in dich. Du meldest dich, wenn du bei der Probandin angekommen bist?“

„Aber natürlich“, versicherte Scott sofort. „Mein Team folgt mir in den nächsten Tagen und wir werden unsere Posten erst dann verlassen, wenn der Auftrag erledigt ist.“

„Das freut mich zu hören.“ Wieder seufzte der Mann, bevor er forderte: „Ich möchte jeden Tag ein Update, sobald du am Ziel bist und mit der Überwachung begonnen hast.“

„Klar doch“, sagte Scott und die beiden Männer verabschiedeten sich. Die vergleichsweise Stille, die nun den Wagen wieder erfüllte, dröhnte in Canys‘ Ohren. Sie hatte einen hohen IQ, das hatte Ally ihr immer wieder bestätigt und auch mehrere Tests waren zu diesem Ergebnis gekommen, aber dennoch hatte sie ihre Probleme, die gehörten Informationen zu verarbeiten.

ConPharm war es erneut gelungen Hybridwesen zu erschaffen.

Scott hatte sie zwar nicht an ConPharm verpfiffen, hatte aber ganz offenbar den Auftrag angenommen, die Leihmutter für die neue Hybrid-Generation zu beaufsichtigen. Und hatte, was noch viel prekärer war, den Auftrag angenommen, diese neuen Hybride zu ConPharm zu bringen.

Ein Auftrag, zu dem er nun unterwegs war und damit auch sie.

Man hörte ein tiefes Seufzen und Canys zuckte zusammen, als Scott sagte: „Weißt du, es ist mir ehrlich gesagt unangenehm, dass du nicht angeschnallt bist. Unfälle können so leicht passieren und ich bin mir sicher, dass selbst dein Körper es nicht überlebt, sollte sich der Wagen bei siebzig Meilen die Stunde überschlagen. Also würdest du bitte aus dem Kofferraum kriechen, dich ordentlich hinsetzen und dich anschnallen?“

Canys‘ erste Reaktion auf die Tatsache, dass Scott die ganze Zeit gewusst haben musste, dass sie sich in seinem Kofferraum versteckte, war Panik. Dicht gefolgt von dem dringenden Bedürfnis, aufzuspringen und die Beine in die Hand zu nehmen. Dass nicht beides ging, war ihrem mit Adrenalin und Cortisol gefluteten Körper herzlich egal.

Ich bin geliefert, dachte Canys und nahm sich eine Sekunde, um sich zu sammeln, ehe sie sich langsam aufrichtete. Ihre Muskeln und Gelenke protestierten gegen die Bewegung, nachdem sie stundenlang völlig stillgelegen hatte.

Langsam hob Canys den Kopf und sah über die Rückbank hinweg nach vorne. Ihr Herzschlag legte nochmal an Tempo zu, als dunkle Augen im Rückspiegel ihren Blick auffingen.

„Komm schon, setz dich nach vorne“, forderte Scott Hewlett und fügte mit einem Grinsen in der Stimme hinzu: „Ich werde dich schon nicht beißen.“

Canys‘ Wölfin knurrte und sträubte das Nackenfell. Sie fand seine Wortwahl unpassend und wenn sie ein aggressiveres Naturell gehabt hätte, dann hätte sie wahrscheinlich mit einer entsprechenden Härte in der Stimme gekontert.

Da sie aber mit ihren Nerven nach dem Gespräch, das sie zwischen Scott und Snyder belauscht hatte, ihre heutige Courage bereits aufgebraucht hatte, schwieg sie zu Scotts Kommentar und schob sich stattdessen langsam über die Rückbank nach vorne.

Dabei ließ sie den Söldner niemals aus den Augen. Auch nicht, als sie sich über die Konsole zwischen Fahrer- und Beifahrersitz schob. Sie achtete peinlich genau darauf, ihn nicht zu berühren. Im Gegenzug fühlte sie immer wieder seine Augen auf sich.

„Da wir viel Zeit miteinander verbringen werden, nehme ich mir die Freiheit, zum vertraulichen Du zu wechseln“, sagte Scott und sah wieder zu ihr, als sie den Sicherheitsgurt anlegte und einrasten ließ.

Als sie nichts erwiderte – ihre Zunge klebte ihr am Gaumen und ihre Wölfin knurrte unablässig in ihrem Kopf – fuhr Scott fort: „Ich hoffe, du hast ordentliche Kleidung mitgenommen. Ich will mir kein Gejammer über die Kälte anhören, wenn ich dich schon mitnehmen muss.“

Überraschung verdrängte für einen Moment alle anderen Empfindungen, die in Canys um die Vorherrschaft kämpften. Sie musterte den Söldner: Er trug Jeans und einen dunkelroten Pullover, den er an den Armen hochgekrempelt hatte. Er sah so erschreckend normal aus, dass sie sich traute mit leiser Stimme zu fragen: „Du drehst nicht um oder schmeißt mich am Straßenrand raus?“

Scott lachte und das unerwartete Geräusch ließ Canys zusammenzucken. Wieder knurrte die Wölfin und sie musste die Zähne fest zusammenbeißen, um den Laut nicht nach draußen dringen zu lassen. Andererseits glaubte sie nicht, dass es den Mann am Steuer beeindrucken würde.

„Das würde zu mir passen, nicht wahr?“, fragte er amüsiert und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. „Aber ich verhalte mich gerne unvorhersehbar, das macht das Leben unterhaltsamer.“ Er wurde ernst und sagte: „Nein, ich nehme dich mit. Es könnte interessant werden.“

Interessant?, fragte sich Canys stumm und schluckte, um ihre ausgedörrte Kehle zu befeuchten. Sie kannte viele Adjektive, die diese Situation beschreiben würden, aber ‚interessant‘ war keines davon. Gefährlich, lebensmüde, verrückt und absolut hirnrissig waren schon eher Beschreibungen, die ihr dazu einfielen.

„Wo genau fahren wir hin?“, fragte Canys langsam. Sie hatte die Hände in den Saum ihres Pullovers gekrallt. Ihre Fingerspitzen kribbelten noch immer.

„Oh Schätzchen, du bist ziemlich schlau“, sagte Scott und lachte abermals. Der Laut schabte über ihre Haut und zerrte an ihren Nerven. Sie sah zu ihm und erkannte, dass das Amüsement seine dunklen Augen erreicht hatte. „Du weißt genau, wohin es geht. Die Frage ist nur: Willst du wirklich mitkommen?“

„Ja“, erwiderte sie ohne zu zögern. Ihre Wölfin war nicht glücklich, neben diesem gefährlichen Mann zu sitzen, aber auch sie hatte verstanden, dass es nötig war, um ihre Familie zu beschützen. Ob dominant oder unterwürfig, diese Aufgabe war wichtig.

Zudem schien sie mit ihrer Aussage Scott Hewlett überrascht zu haben, denn seine Brauen wanderten nach oben und er fragte interessiert: „Warum?“

„Weil ich nicht will, dass jemals wieder jemand das durchmachen muss, was mir und meinen Geschwistern widerfahren ist.“ Es war nicht die ganze Wahrheit, aber ein wichtiger Teil davon. Ihr Magen schlingerte tatsächlich bei der Vorstellung, dass es jemals wieder Kinder geben würde, die in diesen kalten Zellen in ConPharms Laboren aufwachsen mussten.

Nein, niemals wieder.

„Sehr selbstlos“, erwiderte Scott. Er trommelte auf dem Lenkrad, das Geräusch hallte in Canys‘ Inneren übertrieben laut wider. „Weißt du, kleine Wölfin, das kaufe ich dir nicht ab. Niemand, egal wie viel genetischer Mensch in ihm oder ihr drinsteckt, ist wirklich selbstlos. Es gibt immer einen ganz egoistischen Grund, warum andere etwas tun. Welcher ist also deiner?“

„Es ist so, wie ich gesagt habe“, beharrte sie.

„Ist es nicht“, sagte Scott und klang dabei seltsam gelassen.

Was stimmte nicht mit diesem Mann?! Es war regelrecht unheimlich, wie gut er die Fassanden anderer durchschauen konnte. Konnte er Gedanken lesen oder hatte er nur eine so gute Menschenkenntnis, dass er solche Dinge wusste?

Noch während sie sich darüber den Kopf zerbrach, fügte Scott hinzu: „Ich brauche nicht gleich eine Antwort von dir, aber denk darüber nach.“

Canys erwiderte nichts darauf – sie wusste schlicht nicht, was. Stattdessen richtete sie ihren Blick durch die Windschutzscheibe nach vorn. Sie fuhren nach Südosten, immer weiter weg von St. Mary.

Mehrere Meilen verschneiter Landschaft zogen an ihnen vorbei und langsam, ganz ganz langsam, regulierte sich Canys‘ Stresslevel auf ein niedrigeres Maß. Ihre Wölfin knurrte noch immer in ihrem Kopf und ihre Muskeln waren angespannt, aber sie zuckte nicht mehr innerlich zusammen, wenn der Mann an ihrer Seite sich bewegte.

Noch vor Monaten wäre sie in einer solchen Situation schlicht umgekippt. Oder sie wäre so katatonisch gewesen, dass sie nur noch vor- und zurückgewippt wäre und ins Leere gestarrt hätte. Ganz zu schweigen davon, dass sie niemals auf die Idee gekommen wäre, als blinde Passagierin bei einem Auftragsmörder mitzureisen.

Was Ally und die anderen wohl gerade taten?

Es war kurz vor acht am Morgen. Sie hatte das Haus früh verlassen, noch bevor die anderen aufgestanden waren – aus Angst einzuknicken, sollte sie sich mit Ally oder Rafael unterhalten. Wenn sie Glück hatte, dann würde ihr Verschwinden erst am Nachmittag oder sogar Abend auffallen.

Ihre Familie würde ausrasten, das wusste Canys. Das schlechte Gewissen darüber rang sie konsequent nieder. Zu gut erinnerte sie sich daran, wie Lycan und auch Ally reagiert hatten, als sie sich hatte einbringen wollen. Erst, als sie während des Kurses ein Auge auf Scott Hewlett hatte haben wollen und dann bei der Suche nach Zoe.

Sie würde lügen, wenn sie sagte, dass es nicht wehgetan hatte. Sie wusste, dass ihre Geschwister sie nur hatten schützen wollen und doch… der Stachel darüber, dass sie es ihr vielleicht nicht zugetraut hatten, sich aktiv einzubringen, steckte schmerzhaft in ihrem Fleisch.

Sie wollte kein lästiges Anhängsel sein. Nur die arme Schwester, die man vor allem beschützen musste, weil sie nicht mit Druck und Gefahr umgehen konnte. Canys wusste, wer und was sie war und sie hatte in den vergangenen Monaten akzeptiert, dass sie nie so werden konnte wie Ally, aber das musste sie auch nicht. Nur ihre Familie schoss regelmäßig über das Ziel hinaus, sie in Watte zu packen. Egal wie gut sie sich und ihre Panikattacken schon im Griff hatte.

Wie um es sich selbst zu beweisen, nahm Canys all ihren Mut zusammen und warf einen Blick zu Scott. Scheinbar entspannt saß er am Lenkrad, die Augen fest auf die Straße gerichtet.

„Frag schon“, kam es von ihm und Canys zuckte zusammen. So viel dazu, mutig zu sein.

„Woher wusstest du, dass ich etwas fragen möchte?“

Ihre Wölfin tänzelte nervös in ihrem Kopf herum, stellte das Nackenfell auf und war nicht glücklich darüber, dass Canys sich mit diesem gefährlichen Mann unterhielt.

„Nenn es Intuition.“ Er sah kurz zu ihr herüber und fügte hinzu: „Und ich habe recht, nicht wahr?“

„Ja“, sagte Canys langsam. Sie überlegte sich ihre Worte sehr genau, bevor sie fragte: „Warum hast du uns immer wieder geholfen? Aleydis meint, dass du wartest, bis wir vollzählig sind und uns dann an ConPharm übergibst. Stimmt das?“

„Denkt sie das tatsächlich?“, wollte Scott Hewlett wissen. Weder seiner Stimme noch seiner Mimik war anzumerken, was er darüber dachte. Ob ihn die Anschuldigung störte oder nicht, ob er wie so oft zuvor schon amüsiert darüber war oder ob es ihn ärgerte.

Canys nickte langsam und murmelte ein Ja, weil der Mann neben ihr noch immer auf die Straße sah.

Er warf ihr einen weiteren Blick zu und antwortete: „Nun, wie du und deine Geschwister wohl schon festgestellt habt, stimmt diese hübsche Theorie nicht. Ich weiß, wo ihr alle seid und doch habe ich euch nicht an ConPharm ausgeliefert. Habe sogar Roxy fortgeschickt.“

„Wird sie ihr Wort halten?“, fragte Canys gleich darauf. Es war eine Frage, die sie seit dem Zusammentreffen mit der anderen Söldnerin in dem Diner nicht losgelassen hatte. Niemand war in den Stunden und Tagen danach gekommen, um sie zu holen, aber dennoch war da dieses mulmige Gefühl.

„Ja, das wird sie“, erwiderte Scott entschieden. „Sie konnte dem, was ich ihr geboten habe, nicht widerstehen.“

„Was war das?“

Scott lachte, ein rauer und tiefer Laut, der Canys‘ Haut unangenehm prickeln ließ. „Du bist eine sehr wissbegierige kleine Wölfin. Was glaubst du: Wenn ich dir jetzt schon alle Fragen beantworte, über was sollen wir uns dann die restlichen Wochen unterhalten?“

„Wochen?“ Das Wort schob sich rau und viel zu hoch durch ihre Kehle. Hatte er tatsächlich Wochen gesagt?!

„Du hättest dich erkundigen sollen, wie lange dieser kleine Ausflug dauert, bevor du dich in mein Auto geschmuggelt hast.“ Er grinste breit, ganz so, als würde er sich köstlich amüsieren. „Oh ja, das wird wirklich interessant.“