Kapitel 1
Von einem Moment auf den anderen brach die sprichwörtliche Hölle los.
Eine ohrenbetäubende Explosion zerfetzte das vormals gut getarnte Gebäude. Trümmer, Glassplitter und aller möglicher Unrat flogen durch die Luft und erschufen ein Bild purer Zerstörung. Flammen züngelten überall – auch an dem Tarnnetz direkt über ihr.
Sie konnte die Hitze an ihrer Nase spüren. Es war extrem unangenehm und der beißende Rauch und Gestank von Chemikalien reizte ihren Geruchssinn und stach in ihren Augen. Zusätzlich klingelte es in ihren Ohren und die Welt schien sich um sie herum zu drehen. Übelkeit stieg in ihr auf.
Die Metallgitter ihres Käfigs waren geborsten wie junge Zweige. Durch das verbogene Metall und den Rauch, der immer dichter wurde, konnte sie den Wald sehen. Das saftige Grün verspottete das Schlachtfeld um sie herum regelrecht.
Unsicher erhob sie sich, zwängte sich ins Freie und sah sich suchend um. Wo waren ihre Eltern? Eben hatte sie sie noch reden gehört, auf ihrem Weg vom Haupthaus zu ihrem Käfig. Doch von dem Haus und dem Weg war nichts mehr zu sehen. Nichts war mehr an seinem Platz.
Durch all den Gestank roch sie Blut, den Tod. Ihre Beine begannen zu zittern und sie wollte schon einen Schritt hinein in das Chaos tun, nach ihren Eltern suchen, aber das Krachen eines Funkgeräts ließ ihre Muskeln erstarren.
„Ist das Ziel getroffen?“, schnarrte es kurz darauf, irgendwo zu ihrer Linken. Dort befand sich der einzige Weg, der raus aus der Einöde führte.
Ein Pfeifen, dann eine weitere Männerstimme, dieses Mal direkt: „Ja. Wir überprüfen das Ergebnis.“
Noch mehr Adrenalin rauschte durch ihren Körper und verstärkte das Zittern ihrer Muskeln. Ihr Herzschlag verdoppelte sich. Zwischen den Bäumen tauchten Männer auf, ganz in Schwarz gehüllt. In geduckter Haltung kamen sie auf das zerstörte Gebäude zu.
Mit ihren Witterungen war der Duft von weiterem Schießpulver und Waffenfett verwoben. Das bedeutete nichts Gutes. Noch hatten sie sie nicht bemerkt, aber das würde nicht lange dauern. Das spürte sie bis in ihre Knochen hinein.
Für ihre Eltern konnte sie nichts mehr tun, aber ihr eigenes Leben konnte sie retten. Sie musste sich schnell entscheiden, aber eigentlich gab es nur eine Option: Sie musste fliehen.
Wieder knarzte das Funkgerät - und Aleydis rannte.
Meile um Meile brachte sie hinter sich. Der Wald flog nur so an ihr vorbei, ein Kaleidoskop aus Grün- und Brauntönen und goldenen Sonnenstrahlen, die vereinzelt durch das dichte Blätterdach drangen. Die reine Gebirgsluft durchkämmte ihr Fell wie liebkosende Finger.
Seit über einer Stunde hetzte Aleydis in halsbrecherischem Tempo durch die Wildnis und hätte es sehr genossen, wenn sie nicht auf der Flucht gewesen wäre.
Erst als sie einen Gebirgsbach erreichte, der schäumend über die Steine donnerte, hielt sie an. Ihre Lungen brannten und sie hörte ihr Herz in ihren Ohren wummern, doch sie zwang sich dazu für einen Moment den Atem anzuhalten und in den Wald zu lauschen. Nur das kleinste verräterische Geräusch und sie würde ihre Rast augenblicklich unterbrechen. Prüfend drehte sie ihre Ohren in alle Richtungen.
Doch nichts weiter war zu hören als das Rauschen des Baches und das Zwitschern der Vögel. Geräuschvoll atmete sie wieder ein und analysierte die Gerüche um sich herum: Feuchter Waldboden, junges Grün, kleinere Tiere und ganz schwach unter all den neuen Düften lag die Witterung eines Bären. Nichts deutete auf eine Bedrohung hin.
Aleydis erlaubte sich, zu entspannen, trottete zum Ufer und begann zu trinken. Ihre Pfoten sanken tief in den kühlen Schlamm ein und das fühlte sich ebenso herrlich an wie das Wasser, das ihre wunde Kehle hinunter rann. Aleydis war wie ausgedörrt.
Genüsslich leckte sie sich über die Lefzen, sprang auf einen großen flachen Stein und setzte sich hin. Ihr Körper beruhigte sich langsam, sie hatte sich nirgends verletzt und der Hunger hielt sich noch in Grenzen. Somit hatte sie Zeit zum Nachdenken.
Was sollte sie nur tun? Von einem Moment auf den anderen war das Leben, wie sie es bisher gekannt hatte durch einen eindeutig gewalttätigen Akt zerstört worden. Wer war es gewesen? Den Grund konnte sie sich ausrechnen: Jemand hatte es auf die Arbeit ihrer Eltern abgesehen. Damit hatten sie schon länger gerechnet, nur nicht, dass es auf so brutale Weise geschehen würde.
Sie hatte kein Zuhause und keine Familie mehr. Außer ihren Eltern war da nur noch Ian. Aleydis fühlte sich elend bei dem Gedanken, dass er zu einem seiner sporadischen Besuche vorbeikommen und den Männern in Schwarz dabei in die Arme laufen könnte.
Sie musste ihn finden – aber wie nur? Sie hatte kaum das Areal um das Haus verlassen dürfen, meistens war sie in ihrem Käfig gewesen. Und bei den wenigen Gelegenheiten hatten ihre Eltern es nicht erlaubt, dass sie größere Distanzen zurücklegte. Der letzte Ausflug war mehr als fünf Monate her.
Rein verstandesmäßig wusste sie, dass es außerhalb der Wälder Städte gab, in denen all die Menschen auf der Welt lebten. Wenn sie eine dieser Siedlungen erreichte, würde sie sicher irgendwann Ians Witterung aufnehmen können. Seinen Geruch nach Kiefernholz und dem schwachen Nachhall antiseptischer Salbe erkannte sie selbst im Schlaf.
Aber was, wenn sie ihn nicht finden konnte? Unwillkürlich zuckte ihr Schwanz und sie ließ die Ohren hängen. Es war nie vorgesehen gewesen, dass sie sich einmal selbst versorgen müsste. Dementsprechend wusste sie so gut wie nichts über die Welt draußen, wie man sich dort zurechtfand.
Immerhin kann ich hier überleben, dachte sie und betrachtete den Wald um sich. Ein tiefer Atemzug, dann erhob sie sich und setzte ihren Weg fort. Früher oder später würde sie sicher auf die Fährte eines Menschen stoßen und konnte dieser in die Zivilisation folgen.
Wie sich herausstellte benötigte Aleydis dafür mehr als einen Tag.
Sie war kurz davor daran zu zweifeln, dass sich überhaupt ein Mensch in diese Wälder verirrte, als sie regelrecht über die Duftspur stolperte. Ohne Vorwarnung erfüllten Zedernholz und Kardamom ihre empfindliche Nase, gepaart mit der Ahnung von warmer Haut.
Tief inhalierte Aleydis und schloss die Augen. Hatte sie jemals etwas so… Verlockendes gerochen? Betörend erfüllte sie dieser Duft, so dass sie sich am liebsten darin gewälzt hätte. So etwas hatte sie noch nie erlebt.
Hörbar ließ sie die Luft aus ihren Lungen strömen und atmete nochmals tief ein. Als sie sich wieder in Bewegung setzte, folgte sie der Witterung, konnte sich nicht gegen deren Lockruf wehren. Und je deutlicher die Spur wurde, desto mehr beschleunige sich ihr Herzschlag.
Um ein Haar hätte sie ein freudiges Kläffen ausgestoßen, als sie die eigentliche Fährte fand. Mit der Nase ganz tief am Waldboden versuchte sie dahinter zu kommen, was dieser Geruch so Faszinierendes an sich hatte. Der Eindruck von warmer Haut war nun stärker, verbarg sich unter der Zeder und dem Kardamom.
Herrlich, dachte Aleydis und schloss nochmals die Augen. Als sie sich wieder in Bewegung setzte, die Nase noch immer tief am Boden, läutete irgendwo in ihrem Hinterkopf eine Alarmglocke. Aber die Stimme, die ihr sagte, dass es wahrscheinlich keine gute Idee war, dieser Spur einfach so zu folgen, war so leise, dass sie sie leicht überhören konnte.
Je stärker die Witterung wurde und je näher sie damit ihrem Ziel kam, desto mehr Nebengerüche kamen zum Vorschein: Duftnoten, die ein Lebewesen zwar nicht ausmachten, aber dennoch einige Zeit an ihm hafteten. Diese Nebengerüche verflogen sehr schnell und nach einiger Zeit war nur noch der Grundgeruch übrig, der zwar etwas länger hielt, aber auch irgendwann verschwand.
Aleydis hatte sich schon immer gerne damit beschäftigt die Duftspuren an Objekten und manchmal auch an Lebewesen zu analysieren. Woher kam die Kiste? Wer hatte sie alles angefasst und wie lange war das her? Wo war das Eichhörnchen vorher gewesen?
Ihre Eltern hatten sie nur zu gerne dabei unterstützt und oft ihre Analysen dokumentiert. Um ihr Wissen bezüglich der Differenzierung von einzelnen Duftnoten zu erweitern hatten sie ihr einen Koffer mit unzähligen Proben und ein Lexikon gegeben. Aleydis hatte das Wissen regelrecht aufgesogen.
Dadurch war sie nun in der Lage all die einzelnen Nuancen dieser betörenden Fährte zu entschlüsseln: Leder, Kernseife, Kaffee, Trockenfleisch und ein pudriger Duft mischten sich hinein, alles weiterhin überlagert von Zedern und Kardamom.
Kurz vor einer Lichtung blieb Aleydis stehen. Trotz ihres Verlangens den Ursprung des Geruchs zu finden widerstrebte es ihren Instinkten, aus dem schattigen Wald hinaus in den Sonnenschein zu treten. Die freie Fläche bot ihr keinerlei Schutz und sie war nicht gerade leicht zu übersehen. Im leuchtend grünen Gras würde sie mit ihrem schwarzen Fell unweigerlich auffallen.
Unschlüssig setzte sie sich hin, den Schwanz wie eine Katze um ihren Körper gelegt. Sie wusste, dass der Besitzer der Witterung sich in dem Waldstück auf der anderen Seite befand. Es musste ein Mann sein, da war sie sehr sicher – nicht nur, weil sich seit einigen hundert Metern große Stiefelabdrücke auf dem weichen Boden abzeichneten.
Aber was sollte sie tun, wenn sie ihn gefunden hatte? Aleydis konnte ja schlecht zu ihm gehen, sich auf seinem Schoß zusammenrollen und dort selig einschlummern, so wie ihre primitive Seite das wollte. Wenn sie auch nicht viel über Menschen wusste, dann aber, dass sie es nicht gut aufnahmen, wenn große Raubtiere sich ihnen näherten.
Ihr Nackenhaar sträubte sich bei dem Gedanken, dass dieser Mann möglicherweise zu den Angreifern gehören konnte. War das möglich? Sie neigte den Kopf, ehe sie ihn entschieden schüttelte. Nein, seine Fährte wäre ihr definitiv aufgefallen. Nach der Explosion hatte sie die Männer in Schwarz gerochen und dieses Aroma war auf keinen Fall darunter gewesen.
Aleydis sah sich um und überlegte, ob sie an einer schmaleren Stelle über die Lichtung sprinten konnte, als unvermittelt der Wind drehte – und sich ihr komplettes Fell sträubte. Auf einmal war da nicht mehr die verführerische Fährte, sondern der muffige und mit leicht scharfem Unterton gewürzte Gestank eines Bären.
Noch während sie überlegte, was sie tun sollte, erfüllte schon ein wütendes Brüllen den Wald.
Scheiße, schoss es ihr durch den Kopf. Aleydis hatte schon einige Bären gesehen, da diese gelegentlich zu ihrem Grundstück gekommen waren.
Die meisten waren nur neugierig gewesen und waren nach kurzer Zeit wieder abgehauen, aber einer hatte wiederholt versucht, an sie heranzukommen. Wahrscheinlich hatte er es nicht leiden können, dass ein anderer Jäger in seinem Revier war, selbst wenn dieser sich nur hinter Gittern aufgehalten hatte.
Dieser Bär hatte auch diese Art von Gebrüll von sich gegeben, es bedeutete nichts Gutes.
Von namenloser Unruhe gepackt rannte Aleydis über die sonnige Lichtung in den gegenüberliegenden Wald. Der Geruch des Mannes wurde noch stärker, ebenso wie der des Bären. Geduckt schlängelte sich Aleydis zwischen den dichtstehenden Bäumen hindurch, um eine Felsgruppe herum – und blieb wie angewurzelt stehen.
Vor ihr, in einer kleinen Senke mit noch jungen Bäumen, sah sie einen Mann und einen Bären.
Der Mensch stand mit dem Rücken gegen einen großen Findling gelehnt, den Blick starr auf das riesige Tier gerichtet, welches ihn seinerseits fixierte. Das tieffrequente Knurren des Bären vibrierte durch ihren ganzen Körper.
Mit rasendem Herzen verfolgte Aleydis, wie der Mann langsam ein Messer zog – und der Bär zum Angriff überging.
Ohne weiter darüber nachzudenken oder auch nur den Impuls in Frage zu stellen sprintete Aleydis los, warf sich zwischen den Menschen und den Bären und fletschte die Zähne.
Der Gedanke, den Träger dieses unvergleichlichen Geruchs sterben zu sehen widerstrebte ihr bis in den letzten Winkel ihrer Seele. Sie hatte schon ihre gesamte Familie verloren, das würde sie auf keinen Fall zulassen.
Einen Sekundenbruchteil stockte der aggressive Bär in seinen Bewegungen, aber seine Verwirrung hielt nur kurz. Zornig sperrte er sein riesiges Maul auf und brüllte sie an. Unmengen an Adrenalin peitschten durch Aleydis‘ Körper. Sie spannte sich an, sprang und versenkte ihre Zähne unbarmherzig im Nacken des größeren Tieres.
Heißes Blut spülte über ihre Zunge und verdrängte alle Gedanken aus ihrem Kopf.
Bis auf einen: Sie würde nicht eher ruhen, bis der Bär tot war.