Kapitel 1
Ein Knirschen, ein Knacken – und ein tiefhängender Ast schlug Felina ins Gesicht. Der Hieb brannte auf ihrer Wange, doch sie hetzte weiter. Sie hatte schon schlimmere Schmerzen ausgehalten. Zum Beispiel das Brennen in ihrem entzündeten Vorderbein, welches wie ein Blitz bei jedem ihrer schnellen Schritte in ihre Schulter hinaufschoss.
Aber all das war egal, sie musste weiterrennen.
Sie musste fliehen.
Der Wind drehte und wieder roch sie es: Nasses Fell, Waffenfett, trockenes Leder und Pfeffer.
Ihre Verfolger waren ihr dicht auf den Spuren, denn sie konnte nicht so schnell rennen wie sie in gesundem Zustand gekonnt hätte. Zudem war das Gelände uneben, große Wurzeln und Felsen machten es ihr unmöglich an Geschwindigkeit zuzulegen.
Ganz im Gegensatz zu den Hunden der Jäger, die näherkamen. Felina konnte ihr Gebell immer deutlicher hören.
Ihre Instinkte rieten ihr auf einen Baum zu klettern, sich in den vom Herbst rot, braun und golden verfärbten Wipfeln zu verstecken und zu warten, bis ihre Verfolger aufgaben, doch Felina sträubte sich gegen den Willen ihrer Katze. Obwohl die tierische Hälfte ihrer Seele im Moment die Oberhand hatte, setzte sich Felina durch.
Die Hunde mochte sie auf diese Weise loswerden, doch die Jäger hatten Gewehre. Da würden ein paar Blätter und Äste sie nicht daran hindern sie einfach vom Baum zu schießen. Dieses Argument überzeugte auch die Katze in ihrem Bewusstsein. Sie hatten zu viel auf sich genommen, zu viel ertragen, zu viel riskiert um jetzt als Jagdtrophäe zu enden.
Also hetzte sie weiter, ungeachtet der entzündeten Pfote und dem Hunger, der ihr Herz unregelmäßig schlagen ließ. Sie konnte nur hoffen, dass die Menschen bald von ihr abließen. Das Licht zwischen den dichtstehenden Bäumen wurde immer dämmriger. Was die Hunde nicht aufhalten würde, doch Felina setzte darauf, dass die Jäger sie zurückpfeifen würden.
Hoffentlich.
Doch dann kam alles anders als erwartet – unvermittelt lichtete sich der Wald und Felina grub ihre Krallen tief in den weichen Boden, um nicht in den Abgrund zu stürzen, der sich plötzlich vor ihr auftat. In letzter Sekunde kam ihr Körper zum Stillstand, nur Zentimeter vor der scharfen Kante.
Kalter Wind schlug ihr ins Gesicht, sie hechelte und machte einen zitternden Schritt rückwärts. Unter ihr ging es mindestens fünfzig Meter steil bergab. Sie konnte Bäume und eine Straße ausmachen, die sich durch den grün- und orangegefärbten Wald schlängelte. Doch sie hätte genauso gut auf dem Mond sein können, für Felina war sie im Moment unerreichbar. Der Abhang war zu steil, sie konnte unmöglich springen.
Sie saß in der Falle.
Scheiße!, schoss es Felina durch den Kopf. Sie drehte sich um, ihr Brustkorb pumpte weiterhin hektisch Luft in ihre Lungen. Sie konnte die drei Köter bereits durch das Unterholz preschen sehen. Der Geruch nach ihrem nassen Fell und dem Waffenfett ihrer Besitzer reizte ihre Nase.
Felina hatte keine Ahnung, ob sie es mit den Hunden aufnehmen konnte. Mit ihren Wolfs-Geschwistern hatte sie bei den wenigen Gelegenheiten, an denen man sie zusammengelassen hatte, spielerisch gekämpft und gerungen. Dabei hatte sie aufgrund ihrer Wendigkeit oft die Oberhand behalten. Aber es war ein Spiel gewesen und sie hatten eins zu eins gegeneinander gekämpft. Felina glaubte nicht, dass ihre Verfolger so fair sein würden.
Nein, sie würden versuchen sie in der Luft zu zerreißen.
Das Gebell war nun beinah ohrenbetäubend und Felina sträubte das Fell, legte die Ohren an und brummte tief in der Kehle. Sie würde bis zum letzten Atemzug kämpfen und sollte sie hier sterben, dann würde sie das als freie Frau tun. Aber nicht, ehe sie einen oder zwei dieser stinkenden Hunde mit sich in den Tod gerissen hatte.
Und schon brachen sie kläffend und mit Geifer vor dem Maul aus dem Unterholz, stürmten auf Felina zu und weil sie dumm waren, bemerkte einer von ihnen den Abhang nicht. Schnell hechtete Felina zur Seite und hörte noch das Jaulen des Jagdhundes, während er stürzte. Die anderen beiden hatten das Schicksal ihres Kameraden gesehen und schafften es noch anzuhalten, doch sie drehten sich sogleich zu Felina um und knurrten sie an. In ihren Augen standen Eifer und Blutgier.
Felina legte die Ohren näher an ihren Kopf, zog die Lefzen zurück und fauchte die Hunde an. Obwohl sie im Moment unterernährt war, wog sie dennoch mindestens fünfundzwanzig Pfund mehr als ihre Gegner. Doch das interessierte die beiden wenig, denn schon preschten sie auf sie zu und versuchten sie zu beißen.
Mit einem Satz sprang Felina über sie hinweg, kam jedoch hart auf dem Boden auf und Schmerz schoss durch ihr verletztes Vorderbein. Aber ihr blieb keine Zeit sich damit zu beschäftigen, denn schon setzten die Jagdhunde zum nächsten Angriff an. Wieder sprang sie zur Seite, schaffte es dabei ihre Krallen in der Flanke des einen Hundes zu versenken.
Blutgeruch schwängerte die Luft, ebenso wie das helle Jaulen des Hundes. Doch es war nicht genug gewesen um ihn zu stoppen – und sein Kumpan wollte offenbar Rache für die Verletzung. Immer wieder und wieder stürmten sie auf Felina ein, deren letzte Kraftreserven fast aufgebraucht waren.
Sie war so damit beschäftigt nicht zwischen die Zähne der Jagdhunde zu kommen, ihnen auszuweichen und zu versuchen sie ihrerseits zu verletzen, dass sie nicht mehr auf ihre Umgebung achtete.
Andernfalls wäre ihr sicher das metallische Klicken aufgefallen, als der Hahn eines Gewehrs gespannt wurde.
Was sie allerdings bemerkte war der Knall des Schusses und der gewaltige Schmerz, der nur Millisekunden danach in ihrer Hüfte explodierte. Felina stieß einen Schrei aus, taumelte von der Wucht des Aufpralls und schlitterte über die Kante des Abhangs. Für einen Herzschlag war sie schwerelos – ehe die Erdanziehungskraft erbarmungslos nach ihr griff und sie in die Tiefe stürzte.
Mit einem Gefühl aus Schock, Unglauben und sanfter Schwerelosigkeit schloss Felina die Augen und wartete auf den Aufprall, der ihr wohl alle Knochen im Leib brechen würde.
So sollte ihr Leben also zu Ende gehen.