Prolog
Anfang September, drei Monate nach der Flucht
Nass und tonnenschwer hing sein Pelz an ihm. Der Regen donnerte mit Macht auf die Erde hinunter, trommelte auf seinem Rücken und erschwerte die Sicht. Der Boden unter seinen Tatzen war weich und rutschig, so dass er die Krallen tief in die Erde graben musste, um nicht die Böschung hinunterzustürzen.
Durch das Tosen des Unwetters konnte Ursyn kaum noch seine Verfolger hören. Seine Nase wurde von dem vielen Wasser in der Luft ebenfalls behindert. Sein einziges Glück war, dass es den Männern in Schwarz hinter ihm genauso erging. Ihnen und den Bluthunden, mit denen sie ihn seit zwei Wochen durch die Wälder hetzten.
Nein, sie waren ihm schon länger auf den Fersen. Bereits wenige Tage nach ihrer Flucht hatten sie seine Spur aufgenommen. Zwei Monate lang war es ein Katz und Maus Spiel geworden, das heftig an seinen Nerven gezerrt hatte. Dann endlich hatte Ursyn gedacht, sie losgeworden zu sein, ehe sie ihn nahe einer Siedlung wieder aufgespürt hatten.
Du darfst nicht aufgeben, sagte er sich immer und immer wieder. Er war erschöpft, völlig am Ende seiner Kräfte und schleppte sich doch immer weiter. Aufgeben war keine Option, sie hatten es sich gegenseitig geschworen.
Ursyn konnte nur hoffen, dass seine drei Geschwister in Sicherheit waren. Er redete sich ein, dass so lange ConPharm ihn verfolgte, sie keine Spur von den anderen hatten. Es musste ihnen gut gehen, einen anderen Gedanken könnte er nicht ertragen.
Erinnerungen stiegen in seinem übermüdeten Verstand auf, an die Nacht ihrer Flucht. Auch damals hatte es in Strömen geregnet. Aufgepeitscht von Adrenalin waren sie alle in unterschiedliche Richtungen gerannt. Ein Fehler, wie Ursyn später herausgefunden hatte, als er seinen Bruder und seine Schwestern nicht wiedergefunden hatte.
Was, wenn sie doch…?
Nein!, dachte Ursyn, schüttelte seinen massigen Kopf – und brachte sich damit aus dem Gleichgewicht. Sein rechtes Vorderbein glitt auf dem schlammigen Waldboden aus, sein zweites hinterher und ehe er reagieren konnte, rutschte sein massiger Leib den Abhang hinunter. Schneller und immer schneller, die jungen Bäume waren kein Hindernis für ihn und er hinterließ eine Schneise der Zerstörung auf seinem Weg nach unten.
Mit einem Platschen landete er in einem Fluss. Eiskaltes Wasser schlug über ihm zusammen, die Strömung drückte ihn weiter unter die Oberfläche und zog ihn mit. Hektisch paddelte er nach oben, schnappte nach Luft und wurde gleich von der nächsten Welle überschwemmt. Immer wieder kämpfte er sich an die Oberfläche und es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis die Wut des Flusses nachließ.
Ursyn bekam einen Baumstamm zu packen, den das Wasser ebenfalls mit sich gerissen hatte. Keuchend hielt er sich daran fest, sah sich um und erkannte nichts wieder. Wie weit war er abgetrieben worden?
Andererseits war es vielleicht ein Glück für ihn gewesen. Im Wasser konnten die Bluthunde seine Fährte nicht verfolgen und es würde schwierig für die Männer in Schwarz werden, die Ufer über etliche Meilen hinweg abzusuchen, wo er wieder an Land gegangen war.
Ursyn zwang sich nachzudenken. Seinem Bären gefiel es nicht, noch länger wie ein Blatt von den Wellen hin und her geworfen zu werden, selbst jetzt als der Fluss bereits ruhiger geworden war. Ewig würde er nicht auf diese Weise reisen können, aber solange es ihm möglich war, wollte Ursyn nicht wieder zurück an Land. Das Wasser war kalt, doch sein dicker Pelz würde ihn davor schützen zu unterkühlen. Es war die beste Möglichkeit, so viel Abstand zwischen sich und seine Verfolger zu bringen, ohne sich anstrengen zu müssen.
Der Bär ließ sie ein tiefes Brummen ausstoßen, bevor er sich Ursyns logischeren Denkstrukturen ergab.
Es dämmerte bereits, als Ursyn sich schließlich aus dem Wasser zog. Der zuvor reißende Gebirgsfluss war zu einem breiten, gemächlichen Strom geworden. Der Kies an der seichten Stelle, die er sich für den Ausstieg ausgesucht hatte, knirschte laut unter seinen Tatzen. Er begann sich zu schütteln, versuchte so viel Wasser wie möglich aus seinem Fell zu bekommen. Er musste so gut wie möglich trocken werden, bevor die Nacht hereinbrach.
So komfortabel es auch gewesen war sich von dem Baumstamm und dem Fluss tragen zu lassen, so anstrengend war es gleichzeitig auch gewesen. Ursyns Magen zog sich unglücklich zusammen. Er musste dringend etwas zu fressen finden. Vielleicht fand er im Unterholz Beeren oder einige Pilze. Selbst Aas würde er nehmen, auch wenn es seiner menschlichen Hälfte heftig widerstrebte.
Prüfend hob Ursyn die Nase in den Wind, atmete tief ein…
… und riss überrascht die Augen auf. Der Wind trug den Geruch von Holzfeuer, warmen Ziegelsteinen und gebräuntem Zucker mit sich. War er etwa in der Nähe einer Siedlung? Unwillkürlich machte Ursyn einen Schritt zurück.
Bisher hatte er Städte und damit Menschen immer gemieden. Sein Bär war robust genug, um für sich selbst zu sorgen, und Ursyns menschliche Seite war zufrieden damit im Hintergrund zu bleiben, jetzt da sie in Freiheit waren. Nur ein einziges Mal hatte er sich in den letzten Monaten gewandelt und das auch nur, um sich unter die Plane eines Lastwagens zu schmuggeln und auf diese Weise seinen Häschern zu entwischen.
Ohne es wirklich entschieden zu haben bewegte Ursyn sich in die Richtung des Geruchs. Sein Magen knurrte laut, während er durch das Unterholz stapfte. Tatsächlich war er nicht lange unterwegs, bis er zwischen den Stämmen der Bäume erleuchtete Fenster erkennen konnte. Der Geruch nach gebräuntem Zucker hatte sich mittlerweile um Zimt, Teig und süße Äpfel ergänzt.
Apfelkuchen, dachte er und ihm lief das Wasser im Maul zusammen. Sein Magen knurrte laut. Er hatte schon immer eine Schwäche für süße Speisen gehabt. Vor wenigen Wochen hatte er einen Bienenstock entdeckt gehabt. Der süße, cremige Honig war die zerstochene Nase allemal wert gewesen.
Wenige Meter vor dem Waldrand blieb er stehen. In einiger Entfernung, über eine Wiese mit hohem Gras, konnte er ein Gebäude mit erleuchteten Fenstern sehen. Es war ein zweistöckiges Haus, wie er schon viele an den Rändern der ausgedehnten Wälder auf seinem Weg gesehen hatte. Die Fassade war weiß gestrichen, die Fensterläden in einem freundlichen Blau und das Dach mit schwarzen Schindeln gedeckt.
Auf der einen Seite des Gebäudes sah er einige Obstbäume stehen und daneben einen eingezäunten Bereich. Auf einer Leine schaukelte Kleidung im kühler werdenden Abendwind. Die ganze Szenerie schrie ihm praktisch entgegen den Pelz loszuwerden und wieder auf zwei Beinen zu gehen.
Vielleicht war es an der Zeit sich unter den Menschen zu verstecken? In einer großen Gruppe fielen einzelne Individuen nicht so schnell auf. Ursyn schätzte, dass er sich irgendwie würde durchschlagen können und sollte es doch nicht klappen, dann würde er wieder dem Bären die Zügel überlassen.
Sein Bär war unschlüssig und schnaubte. Menschen bedeuteten Gefahr und Schmerz, das hatten er und seine Geschwister ihr gesamtes Leben gelernt. Trotzdem sagte etwas in Ursyn ihm, dass die Welt außerhalb der Hölle von ConPharm nicht durch und durch schlecht sein konnte.
Er erinnerte sich dunkel und verschwommen an die ersten Jahre seines Lebens, als er und seine jüngeren Geschwister noch Kinder gewesen waren. Ihre Betreuerinnen damals waren gut zu ihnen gewesen, hatten mit ihnen gespielt und sie zum Lachen gebracht. Die Sadisten hatten erst dann die Kontrolle über ihre Leben übernommen, als sich zum ersten Mal Ursyns Grizzly gezeigt hatte.
Danach war nichts mehr so gewesen wie davor.
Unwillig schüttelte er seinen massigen Kopf und verscheuchte die Alpträume. Er musste über andere Dinge nachdenken, als über das Grauen in seinem Unterbewusstsein. Sollte er wirklich menschliche Gestalt annehmen? Monatelang war er ein Bär gewesen und hatte seine Geschwister nicht finden können. Vielleicht würde es ihm als Mann gelingen. Es kam zumindest auf einen Versuch an.
Ja, er würde es wagen.
Ursyn schnupperte angestrengt, schwor sich sofort das Weite zu suchen und nicht hierzubleiben, sollte er auch nur einen Hauch von Gefahr wittern können. Aber auch nach mehreren Minuten und nachdem der Wind einmal gedreht hatte, konnte er nur weiter den verführerischen Duft des Kuchens wahrnehmen.
Sein Bär brummte noch immer unglücklich, doch Ursyn hatte eine Entscheidung getroffen. Er würde wieder auf zwei statt vier Beinen laufen. Ursyn atmete tief durch und leitete die Wandlung ein, sofort spülten Schmerz und Ekstase über ihn hinweg.
Seine Knochen knirschten, sprangen schmatzend aus den Gelenken, um sich kurz darauf in veränderter Anordnung wieder zusammenzufügen. Das Fell zog sich zurück und er fühlte kalte Luft auf seiner mit Schweiß bedeckten Haut. Sein Geruchssinn und sein Gehör wurden schwächer, wohingegen seine Augen besser wurden.
Es dauerte mehrere stolpernde Herzschläge, bis Ursyns Nervenenden sich wieder korrekt verknüpft hatten und er es wagen konnte sich aufzurichten. Die Muskeln in seinen Beinen zitterten und er musste die Arme ausstrecken, da er diesen Körper nicht mehr gewohnt war.
Sein Bär war von der Vorstellung, so nackt und schutzlos zu sein, nicht erfreut. Außerdem hatte die Wandlung Unmengen an Energie gekostet, so dass ihm zusätzlich schummrig vor Hunger war.
Wir ändern das gleich, versprach Ursyn dem tierischen Teil seiner Seele. Ein letztes Mal sah er sich um, dann trat er aus dem Wald und ging auf das Gebäude zu. Er behielt die erleuchteten Fenster die ganze Zeit im Blick, um sich rechtzeitig in das hohe Gras in Deckung fallen lassen zu können.
Zu seinem Glück war das nicht nötig. Eilig riss er einen groben Wollpullover und eine Jeans von der Leine und schlüpfte hinein. Der Pullover passte gerade so, die Jeans hing ihm etwas zu tief auf den Hüften. Schnell sah Ursyn sich um, entdeckte ein Paar Arbeitsstiefel neben der Veranda und nahm sich auch diese. Sie waren ihm etwas zu klein, weswegen er die Schnürsenkel weiter aus den Schlaufen zog. Für den Anfang würde er damit zurechtkommen.
Der Wind drehte wieder… und das metallische Klacken des Hahns einer Waffe ließ ihn zur Salzsäule erstarren.
„Keine Bewegung“, schnarrte eine tiefe Stimme hinter ihm, „oder ich erschieße dich wie den räudigen Dieb, der du bist.“